Schmelztiegel der Religionen

Von Eleni Klotsikas · 18.07.2009
Brasilien gilt nach wie vor als die größte katholische Nation der Welt. Die Realität ist jedoch vielschichtiger, denn viele Brasilianer sind keineswegs nur auf eine Religion festgelegt. Gerade die Symbiose von katholischen Traditionen, Festen und Symbolen mit afrikanischen und indigenen Göttern, Riten und Kulten ist heute ein wesentlicher Bestandteil brasilianischer Kultur und Folklore vor allem im Nordosten Brasiliens, im Bundesstaat Bahia.
Im Festraum der Candomblé-Kultstätte Ilê Axé Omo Omim Ala eine Autostunde von Salvador da Bahia entfernt haben sich um die 50 festlich gekleidete Gäste versammelt. Sie klatschen und singen Lieder. Im hinteren Teil des Raumes schlagen fünf Männer die Atabaque Trommeln begleitet von den Klängen einer Metallglocke, der Agôgô. Mit wiegenden kleinen Vor- und Rückwärts-Schritten tanzen dazu in der Mitte in Seemannskostüme gekleidete Frauen und Männer. Schließlich bewegt sich der Menschentross nach draußen in den Garten zu einem Tempel, der die Form eines Schiffes hat. Angeführt wird die Gruppe von einer älteren Frau in einem extravaganten silbernen Kleid und einer Matrosenmütze auf den Kopf. Sie ist Leiterin des Candomblé-Terreiros, in der Kultsprache Ialorixà und im Volksmund auch schlicht "Mutter der Heiligen" genannt.

"Heute wird das Fest des Seemanns gefeiert", sagt Agissé Franca Silva, der Kräutermann des Terreiros. "Die Ialorixa hat die Gestalt eines Matrosen angenommen und wird das Schiff besteigen. Dann wird sie in Bier gebadet."

Mehrere Flaschen werden über ihren Kopf geleert. Das Ritual führen einige jüngere Frauen aus, auch "Töchter der Heiligen" genannt. Die Yalorixa beginnt wie wild zu tanzen. Das Matrosenfest "Marujada" hat in ganz Bahia Tradition. Der Legende nach haben es die Nachkommen zweier Sklavenfamilien aus einem afrikanischen Königreich eingeführt. Als ranghohe Offiziere verkleidet nahmen sie an den Festen zu Ehren katholischer Heiliger teil und konnten somit ihre eigenen sonst verbotenen Tänze darbieten. Nach dem Bierbad greift die Yalorixa in eine Schüssel mit weißem Mais und wirft ihn in die Luft. Ein paar Sylvesterkracher werden angezündet. Eine der Heiligentöchter stößt plötzlich einen inbrünstigen Schrei aus. Sie krümmt sich und verdreht die Augen. Einer der Orixas, der afrikanischen Gottheiten, hat sich – so glauben die Anhänger des Candomblé - ihres Körpers bemächtigt. Sie erlebt gerade einen Trancezustand. Zwei Frauen stützen sie und wischen ihr den Schweiß von der Stirn. Bei den übrigen Gästen scheint dieser Vorgang kein großes Aufsehen zu erregen. Sie klatschen und singen weiter.
"Der Schrei, den die Person ausstößt, wenn sie einen Orixa empfängt, heißt Oela. Jeder Orixa hat seinen eigenen charakterischen Schrei. Es ist ein Begrüßungsruf des Gottes um sich anzukündigen. Es ist nicht die physische Person, die dort schreit, sondern die Gottheit, die sich in der Person materialisiert hat.” "

So erklärt Agissé Franca Silva das Geschehen. Bereits als kleiner Junge hatte er an allen Festen des Terreiros teilgenommen hat. Als Babalossain, als Kräutermann des Terreiros, ist er heute für das Pflücken und Aufbereiten verschiedener Kräuter und Pfanzen für die Canadomblé-Rituale zuständig.

[Nach der Schöpfungslegende der Yoruba schickte einst der oberste Gott Olodumaré die Orixàs los, damit sie die Erde erschaffen und besiedeln. Nachdem sie Städte gebaut und Nachkommen gezeugt hatten, kehrten sie wieder ins Jenseits zurück. Dort verwandelten sie sich in reine Kraft, in das Axé. An diesem Axé können die Menschen Anteil haben, wenn sie in ihren Ritualen die Gottheiten auf die Erde rufen. Das geht aber nur, wenn die Söhne und Töchter der Heiligen in Trance fallen. Zum Medium der Gottheit können nur Eingeweihte, jahrelang in den Kult Initiierte werden. Es gibt im Candomblé auch keine heilige Schrift, in der man darüber etwas nachlesen könnte, erklärt Agissé Fanca Silva:

""Der Candomblé ist keine Wissenschaft, sondern eine gelebte Religion. Es ist ein Wissen, das von der Mutter an die Tochter und vom Vater zum Sohn weitergegeben wird über Generationen. Den Stamm bilden die älteren Personen. Sie sind so etwas wie die Bibliothek und haben einen unschätzbaren Wert."

Die Sklavinnen und Sklaven, die von der portugiesischen Kolonialmacht im 17. und 18. Jahrhundert nach Brasilien verschifft wurden, stammten aus verschiedenen Teilen Afrikas mit jeweils eigenen Riten und Kulten. Erst in Brasilien wurde daraus eine gemeinsame Religion. Doch der afrikanische Götterhimmel wurde mit seinen über 600 Orixàs im Cadomblé auf 16 Gottheiten reduziert. Vorherrschend ist die Tradition der Yorubas. Die Götter repräsentieren dort wie im Candomblé Naturelemente wie Sonnestrahlen, Stürme, Blitze, Donner, Wasser aber auch ökonomische Aktivitäten wie Jagd und Landwirtschaft, sowie Krankheit, Tugenden und Werte. Der Gottvater Oxala wird beispielsweise auch "König des Himmels" genannt. Xangô steht für Gerechtigkeit, sein Naturelement sind die Berge. Yemanja, die Königin der Meere symbolisiert Schönheit und Fruchtbarkeit, und Oxum, die Königin der Seen, Flüsse und Wasserfälle, steht für die Liebe. Die 16 Orixas im Candomblé werden durch Werkzeuge dargestellt, sagt der Kräutermann Agissé Franca Silva:

"Xangô, der König der Gerechtigkeit wird beispielsweise durch eine Axt mit zwei Flügeln abgebildet, Ogum, der König des Krieges durch eine Machete, der Jäger Ochossi der Gott der Wälder durch Pfeil und Bogen. Das Zepter steht für den Gottvater Oxala."

In den Augen der katholischen Kirche und der portugiesischen Kolonialmacht hatten die Sklaven keine Kultur. Das Praktizieren ihrer Rituale war daher strengstens verboten. Der Franziskaner-Mönch Hugo Fragoso lehrte früher an der katholischen Universität von Salvador da Bahia die Geschichte seiner Kirche. Er berichtet, dass die katholische Kirche sehr lange brauchte, bis sie ihre fundamentalistische Sichtweise ablegte:

"Dies geschah erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und in Lateinamerika erst durch die Bischofskonferenz von Medellin und Puebla. Dort wurde das erste Mal verkündet, dass die afroamerikanischen Religionen ein Wertesystem haben, das die Präsenz Gottes in Ansätzen repräsentiert, doch lediglich im Keim."

Um den sogenannten Ungläubigen die Lehre der katholischen Kirche näher zu bringen, zogen die Jesuiten Parallelen zu katholischen Heiligen. Dies wurde zwar von den Sklaven angenommen, führte jedoch keineswegs zur Aufgabe ihrer eigenen Götter.
So entstand ein bis heute gelebter Synkretismus. Jedem der Orixas ist ein katholischer Heiliger zugeordnet. Die Heilige Barbara beispielsweise ist die Gewittergöttin Iansa. Der Heilige Georg wird mit dem Kriegsgott Ogum assoziiert. Wie sehr der Katholizismus mit afrikanischem Brauchtum heute vermischt ist, zeigen die zahlreichen religiösen Feste der Stadt Salvador.

Wenn bei der "Lavagem do Bonfim" alljährlich im Januar die Kirchentreppe der Bonfimkirche mit parfümiertem Wasser gewaschen und mit Blumen geschmückt wird, feiert ganz Salvador mit. Ein Pilgerzug führt durch die ganze Stadt zur Kirche. Angeführt wird er von den Baianas, den Frauen in ihren weißen, weiten bis zu den Fußknöcheln reichenden Candomblé-Kleidern "Aguas de Oxala", Wasser des Oxala, wird die Pozession auch genannt. Ursprünglich befahlen die weißen Herrscher ihren Untertanen am Vortag eines Kirchenfestes, die Treppe blitzblank zu scheuern. Geblieben ist ein Fest, bei dem zwar noch immer viel gewaschen, aber auch viel getanzt und gesungen wird. Die Türen der katholischen Bomfim-Kirche blieben für die Feiernden allerdings lange Zeit verschlossen, sagt der Franziskaner-Mönch Hugo Fragoso:

"Es war ein widersprüchliches Bild. Die Kirche war leer und verriegelt und draußen tanzte die Masse. Die Bischöfe führten dann eine Reform durch, in der es generell verboten wurde, die Türen der Kirche zu verriegeln. Es war eine symbolische Öffnung und so wurde die Kirchenwaschung als ein Akt christlicher Reinigung inkorporiert. Generell kann man sagen, dass die katholische Kirche zwar versuchte die Schwarzen zu erobern, doch letztlich waren es die Schwarzen, die die Kirche für sich eroberten."

In ihren Grundprinzipien haben Candomblé und Katholizismus nicht viel gemein. Im Candomblé gibt es zum Beispiel keine Moralvorstellung und daher auch keine Sünde. Das Gewissen wurde in die Götterwelt ausgelagert. Jeder Orixà vereint in sich gute und böse Charaktereigenschaften. Exu zum Beispiel, der Orixà des Feuers, wird oft mit dem Teuflischen gleichgesetzt. Er sät Intrigen und Missgunst zwischen den Menschen und wenn irgendwo ein Streit ausbricht, dann steckt – so glauben viele Baianer - bestimmt Exu dahinter. Doch während der Teufel im Christentum bekämpft und ausgetrieben werden muss, geht es im Candomblé darum, Exu zu besänftigen. Vor jeder Unternehmung wird zu allererst ihm ein Opfer gebracht, denn wenn Exu zufrieden ist, so die volkstümliche Annahme, hat er weniger Lust, Unheil zu stiften. Dazu wird ein rituelles Lied gesungen. Der Heiligen-Vater Pai Mao, Leiter eines kleinen Terreiros am Stadtrand von Salvador, erklärt es:

"Die Musik ist eine Form der Kommunikation mit dem Orixa. Wenn wir für Exu ein Huhn geopfert haben, dann singen wir: Êêh olha lá zéco zéco, olha zéco li ah... Wir singen: Exu nimm, was wir Dir geben! Êê é um giro uma vila um gire mavambú, é compensoeia. Wir bitten ihn, sich auf die Suche zu machen, nach dem was wir brauchen. Wir bitten ihn, unsere Feinde zu besiegen, und unsere Ziele im Weltkreislauf zu erreichen.”"

Das Terreiro von Pai Mao, der mit richtigen Namen Antonio Batsita heißt, liegt mitten in einer Favela. Hier gibt es keine befestigten Straßen, wenn es regnet, versinkt man im Schlamm. Das Terreiro wirkt bescheiden. Im Garten neben seinem Haus steht ein kleiner Altar aus rohen Ziegelsteinen, wo Pai Mao die Tiere für die Opferbringung schlachtet. Familienmitglieder und Nachbarn schlagen dabei die Trommeln. In einem schlichten Kultraum ohne Wandbemalung empfängt er Gäste. Sein Terreiro ist nicht das einzige in der Siedlung, doch der Bedarf scheint groß. Viele Leute aus der Gegend bitten ihn um Rat bei Krankheiten oder vor wichtigen Entscheidungen.

""Die Funktion des Heiligen Vaters, des Babalorixa oder der Heiligenmutter Yalorixa, ist die Kenntnis über das Infa. Es sind die Geschichten aus dem Leben der Orixas, alles, was der Orixa erlebt und gelebt hat. Um herauszufinden was in einer bestimmten Situation zu tun ist, befragen wir das Infa. Es ist eine weitere Form, in der wir mit den Orixas kommunizieren."

Pai Mao holt 16 kleine Kauri-Muscheln hervor und wirft sie auf den Tisch. Je nachdem wie die Muscheln fallen, weisen sie auf eine bestimmte Geschichte oder einen bestimmten Spruch hin. Die wichtigste und erste Frage ist immer die nach dem persönlichen Orixà.

"Jede Person hat einen Orixa an ihrer Seite. Dieser kann als eine Art Schutzengel definiert werden. Je nachdem welche Charaktereigenschaften und äußerlichen Merkmale eine Person hat, entscheidet sich welchem Orixa sie angehört."

In gewisser Weise ähnelt der Götterkult des Candomblé den Sternzeichen der Astrologie. Doch wer den eigenen Orixa kennt, kann im Candomblé durch Rituale und Opfergaben die Kraft seines Orixa für sich nutzen. Die Opfer werden in Form von Essen gebracht, wobei die Vorlieben der Gottheit zu berücksichtigen sind, genauso wie seine Lieblingsfarbe, seine Symbole und seine Musik. Für den normalen Candomblé-Gläubigen ist es unmöglich, das gesamte rituelle System zu überblicken. Das muss er auch nicht, denn im Zweifelsfall kann er immer den Candomblé-Geistlichen seines Vertrauens aufsuchen. Und davon gibt es in Brasilien viele. Nach Angaben der nationalen Föderation für afro-brasilianische Kulte gibt es im gesamten Bundesstaat Bahia über 5000 registrierte Terreiros und noch mal an die 1500 weitere im restlichen Brasilien.