Schlürfend ins neue Jahr

Von Christian Welp · 31.12.2012
Lebende Tiere roh zu schlürfen mag nicht jedermanns Sache sein. Die Franzosen allerdings verspeisen auf diese Art jedes Jahr rund 120.000 Tonnen Austern - die Hälfte davon in den letzten Tagen des Jahres.
Am Austernstand von Madame Michelle auf dem Pariser Wochenmarkt Daumesnil ist viel los an diesem klirrend kalten Freitagmorgen. Ältere Damen in langen Mänteln stehen dicht gedrängt vor den bunten Plastikkörben und Holzkisten, in denen die Schalentiere unterschiedlicher Größe und Form aufeinandergestapelt liegen. Madame Michelle greift eine kleine Auster, öffnet sie gekonnt mit dem Messer und reicht sie zusammen mit einem Stück Zitrone einer Kundin mit elegantem Tirolerhut. Die träufelt ein paar Tropfen Zitrone in die Austernschale.

"Ich esse sie mit ein bisschen Zitrone. Schauen Sie, wenn man drückt, sieht man, dass sie noch leben. Sie bewegen sich. Sehen Sie das? Sie zuckt. Wenn man sie im Mund hat, muss man sie immer zerbeißen, man sollte sie nicht im Ganzen hinunterschlingen, man muss sie töten."

Die Dame kostet, ordert ein Dutzend Schalentiere aus der Normandie und stimmt gleich noch ein Loblied auf die Auster an:

"Sie sind voller guter Inhaltsstoffe und kalorienarm, wenn man sie nicht gerade mit einem Butterbrot isst. Austern sind noch ein natürliches Produkt, man weiß, wie sie gezüchtet werden, und dass sie aus unverschmutzten Gebieten stammen."

"Austern sind aphrodisierend", wirft eine ältere Dame im grauen Lodenmantel schmunzelnd ein. Eine etwa Gleichaltrige, die mit ihrem Mann zum Austernstand gekommen ist, hält das für eine Legende aus den Zeiten Casanovas.

Überall in Paris werden die Austern aus den großen Zuchtbetrieben an der französischen Atlantikküste im Dezember angeboten, sogar in manchem Supermarkt gibt es sie. Mehr als die Hälfte der gesamten Produktion des Landes von rund 120.000 Tonnen verspeisen die Franzosen zum Jahresende.

Rund dreitausend Austern öffnen Monsieur Grégory und seine Kollegen täglich in der Austernbar des Pariser Nobelkaufhaus Galeries Lafayette für ihre Kunden. Der glatzköpfige Gastronom Grégory trägt bei der Arbeit einen blauen Kittel und weiße Gummistiefel. Er hat das nicht ganz einfache Freilegen des Austernfleisches perfektioniert:

"Also zunächst muss man sich beim Austernöffnen schützen, Sie nehmen dazu ein Tuch in die Hand und legen die Auster da schön hinein. Dann muss man hier den Nerv durchtrennen, also mit der Klinge eindringen, aber nicht zu tief, weil Sie sonst Gefahr laufen, das Austernfleisch zu beschädigen. Sie probieren, setzen einen Hebel an hier mit dem Finger - und hop - schneiden sie auf."

In der kleinen Austernbar im ersten Stock sitzen die Gäste auf weißen Barhockern, Herren in eleganten Businessanzügen, neben einigen Damen liegen üppige Pelzmäntel. Auf den Holztischen vor ihnen stehen Wasser-, Wein- und Champagnerflaschen, auf den Tellern liegen gekochte Hummer, Jakobsmuscheln, Garnelen und Fisch, vor allem aber Austern. Die Gäste schwärmen vom unvergleichlichen Geschmack der Auster nach Meer und loben Gillardeau und Cadoret - das sind Austernzüchter, die Markenprodukte geschaffen haben.

In der Austernfabrik von Jean- Jacques Cadoret in Riec-sur-Belon in der Bretagne laufen die Fließbänder wenige Tage vor Heiligabend auf Hochtouren. Tausende Austern werden bei Cadoret jetzt täglich aus dem angrenzenden Belon-Fluss geholt, am Fließband sortiert und in Holzkisten verpackt. Besonders beliebt ist zu den Festtagen Cadorets Spitzenprodukt. Es ist die flache "Belon- Auster", die drei Jahre im tiefen Meereswasser aufwächst und anschließend zwei Monate im besonders nährstoffreichen Fluss Belon veredelt wird:

"Die Belon ist natürlich einmalig. Alle Welt spricht heute von der Belon-Auster, aber eine richtige Belon muss aus dem Fluss Belon kommen. Sie hat wirklich einen besonderen Geschmack, der auf das Flußwasser zurückgeht, eine Mischung aus Süß- und Meereswasser. Der Geschmack ist viel süßlicher und das Fleisch krokanter als üblich, etwas ganz besonderes. Die Belon ist auch die seltenste und teuerste Auster, vor allem die großen Formate sind sehr teuer."

Jean-Jacques Cadoret schreitet mit grauem Jackett durch die Fabrikhalle, schüttelt Mitarbeitern die Hände, fragt sie nach ihrer Stimmung kurz vor den Festtagen.

In seinem Büro blickt er auf den Belon, über dem die Möwen ihre Kreise ziehen. Monsieur Cadoret ist rund die Hälfte des Jahres im Ausland unterwegs, wirbt in fremden Ländern um neue Kunden. Oft fühlt er sich dabei wie ein Austernbotschafter, sagt er:

"Letzte Woche war ich zusammen mit unseren lokalen Vertriebspartnern in Hongkong und Shanghai unterwegs, um neue Restaurants zu besuchen. Die Küchenchefs wollen alles über Austern erfahren, denn meistens wissen sie noch nicht viel über sie. Also gilt es viel Aufklärungsarbeit zu leisten, vor allem in diesen neuen Ländern: Warum werden Austern roh gegessen? Wie werden sie korrekt aufbewahrt? Wie öffnet und wie serviert man sie?"

Jean-Jacques Cadoret ist mit der Auster aufgewachsen. Die Familie züchtet die Schalentiere seit fünf Generationen. Heute beschäftigt sie sechzig Mitarbeiter, im Dezember sind es zweihundert. Im Küstenort Riec-sur-Belon, wo die Cadorets ihren Firmensitz haben, wurde sogar eine Straße nach ihnen benannt.

"Es gibt auch eine Menge Küchenchefs, die genau sagen, wie sie unsere Austern haben wollen. Wir hören ihnen zu und nutzen ihren Rat bei der Weiterentwicklung der Qualität."

Am Nachmittag kommt schon zum zweiten Mal an diesem Tag der LKW aus Paris. Alle Austern sind für Paris und Umgebung bestimmt, nichts davon wird exportiert. Ende Dezember essen die Franzosen ihre Austern am liebsten selbst.