Schleichende Islamisierung

Von Kai Küstner · 02.03.2011
In der pakistanischen Gesellschaft ist die Saat des religiösen Fanatismus aufgegangen. Es sieht danach aus, als setzten sich islamistische Ideen osmotisch durch, nicht gegen das System, sondern in ihm. Was in den Koranschulen der achtziger Jahre begann, hat inzwischen das ganze Land erfasst, nicht zuletzt seine Institutionen: Justiz, Militär, Politik – es gibt keine Sphäre mehr, die als säkulares Gegengewicht funktionieren würde.
Aktuelles Beispiel: Heute Morgen wurde der christliche Minister für Minderheiten, Bhatti, beim Verlassen seines Hauses in Islamabad erschossen. Er hatte Änderungen am umstrittenen Blasphemie-Gesetz seines Landes gefordert und war deswegen von Islamisten mit dem Tode bedroht worden. Pakistans Blasphemie-Gesetz verbietet generell die Beleidigung jeder Religion, wird aber in der Praxis bei angeblicher Herabsetzung des Islam angewandt. Vor Bhatti sind schon andere deshalb gestorben.

Diese pakistanischen Studenten demonstrieren nicht etwa gegen Studiengebühren oder die hohen Benzinpreise. Sie demonstrieren für einen Attentäter.

Mumtaz Qadri ist der Mann, der bereits gestanden hat, den Gouverneur der Provinz Punjab gemeuchelt zu haben. Qadri ist Polizist. In einer Elite-Einheit. Und Leibwächter. Er hat den Politiker, den er eigentlich schützen sollte, mit Kugeln durchsiebt.

Studentin: "Natürlich war das richtig, ihn umzubringen. Meint diese junge Frau, die Wirtschaftswissenschaften studiert. Wir lieben den heiligen Propheten. Wir können nicht erlauben, dass jemand so etwas sagt."

Was genau hatte Salman Taseer, der Gouverneur der Provinz Punjab, gesagt, das diese Studentin und weite Teile Pakistans so erzürnte? Taseer, da ist sich die Akademikerin sicher, beging eine Todsünde, als er das Blasphemie-Gesetz als "black law", als schwarzes Gesetz bezeichnete. Der Blasphemie-Paragraph verbietet es, den Heiligen Propheten zu beleidigen.

Studentin: "Kein Mensch will, dass jemand etwas gegen den Propheten sagen darf. Jeder von uns würde als Beschützer des Propheten auftreten und hätte vielleicht dasselbe getan. Lebenslänglich sieht das pakistanische Strafgesetzbuch für jeden vor, der den heiligen Koran abschätzig behandelt. Auf Beleidigung des heiligen Propheten steht ebenfalls lebenslänglich - oder die Todesstrafe. Kaum jemand hier an der Punjab University von Pakistans zweitgrößter Stadt Lahore scheint im Fall Taseer allerdings der Meinung zu sein, dass der lästige Umweg über ein Gericht nötig gewesen wäre. Selbst ein Jura-Student hat kein Problem damit, dass der Leibwächter das Gesetz in die eigenen Hände nahm und die Waffe gegen seinen Schützling richtete. Die junge Elite Pakistans scheint sich einig mit so vielen."

Britta Petersen: "Was klar geworden ist, nicht nur an dem Mord sondern noch viel mehr an der Tatsache, dass Leute diesen Mord gefeiert haben in großer Zahl, dass Anwälte den Mörder mit Rosenblättern überschüttet haben, sich hundert Anwälte bereit erklärt haben, ihn kostenlos zu verteidigen … Es hat in allen Medien Berichte gegeben und Kommentare, in denen ausführlich begründet worden ist, dass dieser Mann den Tod verdient hat. Und man muss dazu sagen, dass dieser Mann nichts anderes gemacht hat als eine moderate Änderung im Blasphemie-Gesetz zu fordern. Er wollte noch nicht einmal dieses Blasphemie-Gesetz abschaffen sondern er wollte den immer wiederkehrenden Missbrauch verhindern. Das hat bei den Liberalen im Land zu einem Schock geführt."

So beschreibt Britta Petersen, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore, die Stimmung im Land. Der Mörder hat nicht nur einen Politiker für immer zum Schweigen gebracht, er hat auch - so scheint es - die gesamte liberale Elite mundtot gemacht. Sich aus Sicherheitsgründen nicht mehr öffentlich äußern, wollen sich die Angehörigen des Ermordeten. Die Familie des mutmaßlichen Mörders tut das dagegen gern.

Eine verhältnismäßig ruhige Gegend in der Garnisonsstadt Rawalpindi. Hier lebt und arbeitet der Bruder des Attentäters Mumtaz Qadri. Das ganze Viertel ist geschmückt mit Spruchbändern: "Wir preisen Deinen Mut, Qadri" steht darauf. Und der Bruder des Attentäters hat selber ein Plakat entworfen, das die Freilassung des Familienmitglieds fordert. Die Verwandtschaft sei stolz auf seinen Bruder, sagt er. Nein, die ganze Welt sei stolz auf ihn:

"Nicht nur aus Pakistan, aus der gesamten muslimischen Welt bekommen wir Unterstützung. Menschen kontaktieren uns per Email, per Telefon, einige sind sogar extra nach Pakistan gereist, um ihre Solidarität kundzutun. Und hier im Land haben wir hundert Prozent Zustimmung. Egal ob aus den politischen Parteien, aus der Zivilgesellschaft oder aus den religiösen Gruppen - alle unterstützen uns."

Er habe, erzählt Immobilienmakler Dil Bazeer, seinen Bruder im Gefängnis besucht - der von vielen hier nun als eine Art Soldat des Propheten verehrt zu werden scheint. Sein Bruder sei im Reinen mit sich selbst, sagt Bazeer, sei noch nie glücklicher gewesen als jetzt in seiner Zelle. Der Islam, erklärt er, sei eine sehr tolerante Religion. Aber wenn es um Gotteslästerung gehe, dann stünden darauf nun mal sehr hohe Strafen.

Bruder: "Gott war so besorgt um die Heiligkeit des Propheten, dass er die Menschen bat, nicht ihre Stimmen in seiner Gegenwart zu erheben. Wie könnte es also sein, dass er diejenigen nicht bestraft, die den Propheten beleidigen. Also war es Gott selbst, der Salman Taseer bestraft hat!"

Das Blasphemie-Gesetz sei nun mal keines, das von Menschen gemacht sei, sondern es komme direkt von Gott.
Eine solche Auslegung macht es natürlich all denen schwer, die – wie Salman Taseer das getan hat - versuchen, mit weltlichen Argumenten zu streiten. Etwa dem, dass das Gesetz ja so leicht zu missbrauchen sei, indem man seinen persönlichen Feind schlicht der Blasphemie bezichtige – und man es deshalb doch ergänzen solle. Qadris Bruder findet auch die Frage, ob nicht im Fall Taseers lieber ein Gericht über Leben oder Tod des Politikers hätte entscheiden sollen, nicht wirklich zulässig.

Bruder: "Wenn die Autoritäten und unsere politischen Führer das Gesetz in ihre eigenen Hände nehmen, dann werden die normalen Menschen dadurch dazu ermuntert, das gleiche zu tun. Und: Es ist nicht Sache der Menschen, es ist Gott selbst, der Rache nimmt für die Beleidigung seines Propheten."

Dal Bazeer, der Bruder des Attentäters, ist kein Taliban, er sagt von sich selbst, er sei ein liberaler Muslim. Andere Religionen behandle er mit Respekt und Liebe. Wie freizügig Frauen sich kleiden, überlasse er ihnen. Trotzdem dürften sich die Extremisten die Hände reiben, wie bereitwillig auch sogenannte Moderate in diesem Fall ihre Positionen vertreten. Die sogenannte schweigende Mehrheit - schwieg. Die Frage ist, ob sie nicht gleichzeitig auch zustimmend mit dem Kopf nickte - während sie schwieg. Britta Petersen von der Heinrich-Böll- Stiftung jedenfalls, hält den Gegenpol zu den Islamisten - Journalisten, Anwälte, Geschäftsleute – derzeit nicht nur für zu schweigsam, sondern auch für zu schwach:

Petersen: "Die Zivilgesellschaft war, wenn man das realistisch betrachtet, immer zu schwach, um grundsätzlich etwas zu ändern. Was zum großen Teil auch daran liegt, dass die Zivilgesellschaft selbst vor allem sich aus der Oberklasse rekrutiert und nie eine wirkliche Gefahr für das System gewesen ist. Und diese Gruppe von Leuten wird immer kleiner, weil sie eingeschüchtert wird durch Attentate, die Kräfte, die etwas gegen die Islamisten sagen könnten, werden systematisch auseinandergebrochen durch diese Taktik."

Ein Ruf zum Gebet in Pakistans Metropole Lahore. Nicht irgendein Ruf zum Gebet, es ist ein Geistlicher der schiitischen Minderheit in Pakistan, der hier intoniert. Nie in der Geschichte des Landes hatten es die Schiiten, die traditionell in Ländern wie dem Iran oder im Libanon stark sind, leicht in dem Land, das sich eigentlich "Heimstätte aller Muslime" nennt. In letzter Zeit wurde es für die Schiiten noch ein bisschen schwieriger, ja lebensgefährlich.

Shiiten: "Es gibt für uns keine Sicherheit. Wir sind ständig in Gefahr. Wir können ungeschützt keinen Schritt vor die Tür tun. Aber noch nicht mal die Sicherheitsleute können uns schützen, weil sie selber angegriffen werden. Die Angriffe auf uns haben zugenommen, die Bedrohung ist größer geworden."

Beklagt der Leiter eines schiitischen Zentrums in Lahore, Hummad Raza. Immer wieder werden religiöse Umzüge der Schiiten attackiert, sprengen sich Selbstmordattentäter inmitten von Menschenansammlungen in die Luft. Angebliche Muslime morden im Namen des Islam Muslime. Aus Sicht der Taliban – die sich aus der sunnitischen Mehrheit rekrutieren – glauben die Schiiten eben nicht richtig:

"Man hat es versäumt, den Militanten gleich zu Anfang Einhalt zu gebieten. Dadurch sind sie immer stärker geworden. Jetzt sind sie so mächtig, dass sie alle möglichen Gruppen angreifen. Die Ahmadis, die Schiiten, auch Sunniten. Keiner wird verschont. Mit dem Islam haben diese Menschen nichts gemein. Sie töten ja Muslime."

Auch die Minderheit der Ahmadis etwa – eine Gruppe, die sich selber als Muslime bezeichnet, es aber laut Gesetz nicht ist – wurde in letzter Zeit auffällig oft Ziel von Anschlägen. Und übrigens auch Opfer von Anklagen nach dem Blasphemie-Paragraphen. Das Land entlang religiöser Linien zu spalten, dürfte eines der Ziele der Extremisten sein. Begünstigt zu werden, scheint das alles neuerdings von einem Hass-Klima im ganzen Land, geschaffen von den religiösen Parteien, die ganz gezielt die vermeintlichen Unterschiede zwischen den Konfessionen herausstellen.

Was dazu führt, dass sich über ein Gesetz wie den Blasphemie-Paragraphen gar nicht mehr diskutieren lässt. Der Chef der Kommission für Frieden und Gerechtigkeit in Lahore, Peter Jacob, beklagt, dass die Situation für die Minderheiten im Land deshalb noch nie so düster gewesen sei in der Geschichte Pakistans wie jetzt. Bestimmte Gruppen würden das Land gerade mit einer pseudo-religiösen Kampagne überziehen.

Jacob: "Es ist schlimmer denn je. Die haben die junge Generation so aufgewiegelt, so mit Wut erfüllt, dass die die Realität gar nicht mehr sieht. Und etwa beim Thema Blasphemie gar nicht wahrnimmt, wie hier bewusst Fälschung betrieben wird. Insofern, als man ihnen sagt, der Islam sei angeblich eine Religion, die so etwas nicht toleriert. Auch der Mord an Salman Taseer, dem Gouverneur von Punjab, wird im Grunde nur dazu genutzt, die normalen Menschen zusätzlich mit Wut zu erfüllen."

Die Zivilgesellschaft, sagt Jacob, sei unbewaffnet - und genau deshalb wehrlos. Und: Die Ursachen für die Schwäche der Liberalen und die Kraft der Islamisten lägen in der Geschichte des Landes – und zwar gar nicht mal so tief - vergraben, wie man denken könnte:

"Die Regierung Musharraf und auch die jetzige haben sich dafür entschieden, den Extremismus nur administrativ und militärisch zu bekämpfen. Sie konnten sich nicht dazu durchringen, die Islamisten ideologisch zu bekämpfen. Also sind diese Quellen der Ideologie, der ganze Apparat, der die Jugend beeinflusst, voll funktionsfähig. Die Infrastruktur, die diesen Hass hervorbringt, ist voll intakt – in Form von bestimmten Organisationen und Religionsschulen, den Madrassas."

Andere sagen: man muss noch etwas tiefer schürfen, wenn man bis zu den geschichtlichen Wurzeln von Pakistans heutigen Problemen vordringen will. Klar ist: Pakistan ist ein Staat, der im Namen des Islam errichtet wurde. In der Verfassung steht: die Oberhoheit über das Universum übt Allah aus. Also habe man es auf einmal – laut Verfassung - mit zwei Gewalten zu tun. Mit dem Staat. Und mit Gott. Wenn die Taliban also sagen: wir berufen uns auf Gott bei dem, was wir tun, wir müssen uns nicht an das Gesetz halten – wer wollte ihnen da widersprechen? Der Buchautor und Politikexperte Ahmed Rashid weist darauf hin, dass die Islamisierung obendrein in eine schwierige Zeit falle: in der Pakistan mit einer nicht enden wollenden wirtschaftlichen Krise zu kämpfen hat, die das Land immer wieder an den Rand des Bankrotts führt. In der die Bevölkerung über Inflationsraten von 15 bis 20 Prozent stöhnt.

Rashid: "Das Thema Blasphemie vermischt sich jetzt mit dem Anti-Amerikanismus im Land - der akzentuiert wird durch den Fall des amerikanischen Diplomaten, der offenbar zwei Pakistanis in Lahore getötet hat - durch Anti-Amerikanismus wegen der Drohnen-Attacken in den Stammesgebieten. Wir haben also eine lange Liste von Misständen, die von den Fundamentalisten ausgeschlachtet werden, um die Menschen zu mobilisieren."

Hinzu kommt: Pakistan hat die Monsun-Fluten des vergangenen Sommers noch lange nicht verwunden. Auf einmal also scheinen die Islamisten – weil die zivile Regierung die Probleme nicht in den Griff bekommt - für die Menschen eine echte Alternative zu sein. Glaubt auch Britta Petersen von der Heinrich-Böll-Stiftung:

"Ich fürchte, dass dieses Land tatsächlich in die Hände einer islamistsichen Partei fallen könnte. Der Boden ist über sehr lange Zeit bereitet worden. Die Islamisierung fing ja schon unter Militärdiktator Zia ul Haq an. Jetzt ist eine Generation herangewachsen, die mit Schulbüchern aufgewachsen ist, die ganz offen Hass predigen gegen Indien. Die eine bestimmte Version des Islam predigen. Diese Generation ist erwachsen geworden, hat inzwischen Positionen in der Gesellschaft. Die, die noch das alte südasiatische, liberale Pakistan kennen, sind inzwischen alle Anfang 50, Anfang 60, gehen langsam in Rente."

Traurige Ironie der Geschichte ist, dass der Westen genau diese Islamisierung in den 80er Jahren unter Militärdiktator Zia ul Haq kräftig vorantrieb. Weil das vorrangige Ziel damals war, mit pakistanischer Hilfe die Sowjetunion aus Afghanistan zu vertreiben. Folglich ließ man dem Diktator als Gegenleistung innenpolitisch freie Hand - etwa bei der Gründung tausender Madrassas. Und bei der Bewaffnung der Mujaheddin, der "Gotteskrieger". Damals, so eine gängige Redewendung, habe man viele Frankensteinmonster erschaffen, die sich jetzt – in Form der Taliban - gegen ihre Erschaffer, auch gegen den Westen wenden. Eine der großen Fragen ist: wie wird sich die mächtige pakistanische Armee in Zukunft verhalten?

Rashid: "In Afghanistan werden wir gerade Zeuge eines Finales - was den Abzug der internationalen Truppen betrifft; die Frage, welches politische System kommen wird, ob man nun mit den Taliban reden soll oder nicht …- da steht derzeit viel auf dem Spiel. Das pakistanische Militär will da ein gewichtiges Wort mitreden. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die gesamte afghanische Taliban-Führung in Pakistan sitzt, und zwar recht komfortabel, die haben hier einen Rückzugsraum bekommen. Offenbar hält die Armee dies für einen wichtigen Trumpf, den sie nicht aus der Hand geben will. Diese Politik wird aus meiner Sicht immer gefährlicher. Was nämlich jetzt auf dem Spiel steht, ist die Zukunft Pakistans."

Die Taliban, so befürchten pessimistische Beobachter, müssten gar nicht mehr selbst nach der Macht greifen. Pakistans Gesellschaft bewege sich ohnehin auf sie zu. Das ist für ein Land, das Atomwaffen besitzt, keine gute Nachricht. Und auch nicht für die westlichen Truppen im Nachbarland Afghanistan.