Schlaflos in Vorpommern

21.10.2013
Wer grübelt, kann nicht schlafen. Er durchwacht die Nacht. Wer nicht schlafen kann, der grübelt. Über sich, das Leben und die Welt. Beste Voraussetzungen eigentlich für einen Roman, der in den Stunden zwischen Sonnenunter- und aufgang spielt und gleich mehr als ein Dutzend solcher Nachtschwärmer wider Willen versammelt.
Aus der ganzen Republik sind sie angereist, um in einem Wochenendseminar unter der Leitung eines ausgewiesenen Schlafexperten Heilung zu finden. Sonderlinge und gestandene Leute, Journalisten, Lehrer, Anwälte, Manager. Schauplatz ist ein idyllisch gelegenes Landgut irgendwo im Vorpommerschen, das nach der Wende zu einem malerischen, inzwischen leicht abgewetzten Hotel umgebaut wurde. Doch der Professor lässt auf sich warten. Man überbrückt die Zeit mit Essen, Rotwein und Gesprächen über Schlaflabore, Singtherapien oder Abseitigkeiten wie den ärztlich empfohlenen Besuch von Swinger-Clubs als Einschlafhilfe.

Es bilden sich wechselnde Grüppchen und Zufallspaare, deren Redebedürfnis mit fortschreitendem Abend in intime Lebensbeichten übergeht. Über unglückliche Lieben, strenge Väter, Traumata und Spleens. Da ist der als Maler gescheiterte, mäßig erfolgreiche Kunsthändler Rottmann und die nicht mehr ganz junge, verhuschte Lehrerin Margot, die eine ererbte Puppenfabrik durchgebracht und mittels eines einzigen Wirtschaftskrimis vergeblich auf eine Schriftstellerexistenz gehofft hat. Da ist der Versicherungsmanager Mulik, der kurz vor der Pensionierung steht und dem die Scham über unlautere Vertragsabschlüsse und mehr noch über ein inzestuöses Verhältnis die Zunge lockert, weil er an der dauermüden, von gelegentlichen Absencen heimgesuchten Versicherungsmaklerin Moll rätselhaften Gefallen findet.

So fallen nicht nur rhetorisch manche Hüllen. Je länger der versprochene Heiler ausbleibt, je mehr Wein durch die Kehlen fließt, desto mehr gerät das Geschehen aus dem Ruder. Sich verprellt sehende Seminarteilnehmer randalieren in der Lobby, der überforderte Hotelier steht kurz vor einem tätlichen Übergriff auf den italienischen Zauberer, der ihm die Ehefrau ausspannt. Die unterdessen in Tiefschlaf gefallene Frau Moll entkleidet sich somnambul vor aller Augen und auf der Empore über dem Salon kommt es zu einer intimen Begegnung.

Mit großem Geschick inszeniert Ulrike Kolb dieses burleske Kammerspiel aus deftig- lauten Szenen, wüsten Gelagen und subtil gesponnenen, fein aufgefächerten Beziehungsparlandi. Sie erzählt in wechselnden Perspektiven, leuchtet ins Innere ihrer Figuren, lässt sie in tapferen Selbstzweifeln monologisieren, um wie in einer schnellen Kamerabewegung gleich danach den Blick von außen auf sie zu richten. Dieser stete Wechsel bündelt und rhythmisiert nicht nur die Vielfalt der erzählten Lebensläufe, er übersetzt auch den flirrenden Zustand der überreizten Sinne aller Schlaflosen in eine Art dauerhafter Springprozession. Und bei aller Düsternis der verzweifelt Maladen gewinnt der Roman so eine geradezu tragikomische Heiterkeit.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Ulrike Kolb: Die Schlaflosen
Wallstein-Verlag, Göttingen 2013
200 Seiten, 19,90 Euro


Die Kritik zum letzten Roman von Ulrike Kolb "Yoram"