Schiefgelaufene rote Turnschuhe

25.04.2012
In den roten Stoffschuhen ihres toten Bruders läuft Mae durchs Leben. Sie lebt mit ihnen auf der Straße, arbeitet mit ihnen in einem Aids-Hilfe-Haus, trägt sie durch die Beziehung mit dem überaus organisierten Jakob und dem todkranken Paul. Ein sehr schöner Debütroman.
Die Chucks, die Cornelia Travniceks Romandebüt seinem Titel gegeben haben, sind rot. Sie gehören dem älteren Bruder der Heldin und Ich-Erzählerin, einer jungen Frau namens Mae Reimel. Ihr 14-jähriger Bruder bekommt die Leinenturnschuhe, als er schwer krank in einem Wiener Krankenhaus liegt. Leukämie. "Man braucht keine neuen Turnschuhe in einem Krankenhaus", weiß Mae. "Man braucht überhaupt keine neuen Schuhe, wenn man stirbt, und am wenigsten solche, die doppelt so viel kosten, wie die, die Eltern üblicherweise für Jungen im Wachstum kaufen würden." Als der Junge stirbt, nimmt die Mutter die Schuhe mit nach Hause. Nach dem Begräbnis schnappt Mae sie sich, zieht sie anderntags in die Schule an "und am übernächsten und von da an immer".

Die roten Chucks durchziehen als Motiv den gesamten Roman der 1987 in St. Pölten, Niederösterreich, geborenen Cornelia Travnicek. Sie stehen für das bisschen Leuchten und Lebensmut im spartanischen Kranken- und Totenzimmer des leichenblassen Bruders; sie begleiten Mae auf ihrer Wanderschaft durchs Leben, vor allem auf der Straße, wo sie nach dem Zusammenbrechen der Familie eine Zeit lang lebt. Und weil sie an den Außenseiten abgelaufen sind, zeigen ihr die Schuhe eines Tages an, wie schief sie eigentlich durchs Leben geht: wortwörtlich und im übertragenen Sinn.

"Chucks" ist ein kleiner, trauriger und berührender Adoleszenzroman. In vielen kleinen, immer wieder die Szenerien und Jahre wechselnden Abschnitten erzählt Cornelia Travnicek aus dem Leben von Mae: von der Beziehung zur Mutter und dem Vater nach dem Tod des Bruders, von ihrem Leben auf der Straße, von ihrer Arbeit in einem Aids-Hilfe-Haus, die sie als Bewährungsstrafe ableisten muss, von ihrer Beziehung mit dem sturzlangweiligen, durch und durch organisierten Jakob. Und vom aidskranken Paul, ihrer großen Liebe. Dabei steckt anscheinend eine Menge Kraft und Energie in Mae selbst. So schnell lässt sie sich nicht unterkriegen, dafür steht allein das von der Hamburger Popgruppe Tomte stammende Motto des Romans: "Es gibt Aufgaben, die zu erfüllen wären, den Traurigen die Welt zu erklären."

Aber auch Travniceks Sprache strotzt vor Kraft und Energie: Die ist bisweilen schön poetisch, oft prägnant - und schießt manchmal übers Ziel hinaus, etwa in einer der rätselhaft-lakonischen Kapitelüberschriften: "Vom Arschloch namens Leben und dem Spaß am Autofahren." Oder in Formulierungen wie "Ich habe ein Lächeln im Gesicht, das sich hartnäckig weigert, abgesetzt zu werden." Und: "Mein Lächeln erkennt seine Chance und läuft zu Höchstform auf." Grammatisch falsch sind solche Sätze nicht, nur etwas windschief. Hier merkt man vor allem, dass Travnicek mit ihrem Schreiben noch am Anfang steht und sich ausprobieren möchte, doch den Gesamteindruck trübt das kaum. Am Ende, da Mae auf die "schmutzig grauen Gummikappen" ihrer Chucks schaut und trotz des Todes ihres Freundes Paul "eine Freude, einen Willen zum Leben, zu diesem Leben" verspürt, ist man sich sicher, mit "Chucks" gerade einen sehr ordentlichen, sehr schönen Debütroman gelesen zu haben.

Besprochen von Gerrit Bartels

Cornelia Travnicek: "Chucks"
DVA, München 2012
187 Seiten, 14, 99 Euro
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