Schawuot-Fest

Lernen als geistiger Widerstand

Thora-Wimpel im Berend-Lehmann-Museums, das unter dem Dach der Moses-Mendelssohn-Akademie steht.
Der Erhalt der zehn Gebote steht im Mittelpunkt des jüdischen Festes Schawuot. © dpa / picture alliance / Jens Wolf
Von Shelly Kupferberg · 22.05.2015
Erzählt wird an Schawuot die Geschichte von der Übergabe der Thora an das Jüdische Volk. Man spricht auch von der Offenbarung am Sinai. Und dieses Lernen hat im Judentum eine lange Tradition.
Jüdisches Lernen − ob im engeren traditionellen oder im weiteren modernen säkularen Sinne − findet überall dort statt, wo es um die Auseinandersetzung und Zugehörigkeit zum Judentum geht. Daher bietet Schawuot einen sehr passenden Anlass, über verschiedene Fragen, die sich aus der Thora ergeben, zu diskutieren, zu lernen.
"Wir werden drei Vorträge haben, u.a. wird Prof. Brumlik sprechen zu Offenbarung, denn das ist ja auch ein Thema zu Schawuot, über Mendelssohn, ich werde etwas machen zu Kashrut von Käse, denn es ist traditionell, dass man Milchprodukte zu Schawuot isst und noch etwas über das Buch Ruth, das ist eine der fünf kleineren Megilot, Rollen, die mit dem Schawuotfest verbunden sind."
So Jonah Sievers, Gemeinderabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Die Übergabe der Thora ist ein markanter, ein identitätsstiftenden Moment in der Geschichte der Juden, denn vor dieser wichtigen Begebenheit waren sie Israeliten. Durch die Übergabe der zehn Gebote wurden sie zu Juden, Schawuot also markiert die eigentlich Volkswerdung der Juden.
"Die physische Befreiung war halt der Auszug aus Ägypten, und unmittelbar danach, 49 Tage danach, verknüpft damit die geistige Freiheit durch die Übergabe der Thora am Berg Sinai. Und dann passt es ja ganz gut, vorher die Nacht zu lernen!"
Eine überragende Bedeutung
Das Lernen im Judentum – es hat eine überragende Bedeutung. Geistiges Eigentum zählt weit mehr, als materielles Eigentum. Ursprünglich verfügte jede jüdische Gemeinde über ein so genanntes "Lehrhaus". Oft war es nur ein Zimmer, das vom Betsaal getrennt war – deshalb auch einfach nur "Cheder" genannt, das ist das hebräische Wort für Zimmer, in dem sich die erwachsenen Männer zum Lernen trafen.
"Wenn du lehrst, lernst du, [...] die Thora kann man nur gemeinsam studieren",
sagen jüdische Spruchweisheiten.
"Ich glaube das Wesen ist – egal in welchem Setting es ist – es ist doch eigentlich traditionellerweise, auch in der modernen Welt: ein dialektischer Prozess. Es ist also immer mit Partner, "Chawutrah", an dem man sich dann abarbeitet. Und an dem man seine Thesen und Meinungen ausprobieren muss. Und auch prüfen kann, wie valide und gut die Argumente sind, die man vorbringt. ... Man hat immer gleich ein eingebautes Korrektiv. Das ist auch eigentlich ne wunderbare Sache! 15’30: Man braucht es schon, und das ist auch die Lebenserfahrung: Es ist immer besser, wenn man ein Korrektiv hat. Und, man behält die Sachen auch besser! Wenn man sich einmal damit intensiv beschäftigt hat und seine ganzen Argumente an einem Partner, dem man ja nicht immer zustimmen muss, aber, doch geschärft hat, möchte ich sagen."
Individuelles Lesen und Diskussionen wechseln sich ab; jeder hat die Chance, zu Wort zu kommen. Und der Lehrer, der Rabbiner, ist egalitärer Teil einer Gemeinschaft, die gemeinsam nachdenkt und Fragen und Geschichten der Thora erörtert und hinterfragt. Der gemeinsame Lernprozess steht also im Mittelpunkt. Im Judentum wird niemand als zu alt erachtet, um seinen religiösen Lernpflichten nachzukommen – lebenslanges Lernen galt seit jeher als Selbstverständlichkeit:
"Wer die Thora lernt, dem kann der Todesengel nichts anhaben."
Wenn wir allerdings vom jüdischen Lernen sprechen, über wen sprechen wir da genau? Nur über Männer?
"Natürlich muss man sagen, dass das Lernen zu Anfang nur ne reine Männerveranstaltung war.... Frauen haben dann schon gelernt, vielleicht von ihren Müttern. Aber selbst jetzt ist das schon aufgebrochen, durch die moderne Orthodoxie und im liberalen Judentum ist es sowieso – da herrscht sowieso Gleichberechtigung, also da gibt es kein Unterschied im Lernen, in dem, was gelernt und wie gelernt wird zwischen Männern und Frauen. Aber auch in der Orthodoxie ist Bewegung, dass selbst in Scheidungsfragen Frauen zugelassen sind, die dann für andere Frauen bei den Verhandlungen dabei sind und die halachischen Argumente austauschen. Also es gibt da schon auch Bewegung, nur, es dauert ein bisschen länger."
Hohe Wertschätzung blieb erhalten
Auch jenseits des religiösen Lernens und im Zuge der Verweltlichung großer Bereiche jüdischen Lebens, ist die hohe Wertschätzung des Lernens durch die Geschichte hinweg erhalten geblieben. "Lernen um des Lernen willens" - dieses Prinzip zieht sich wie ein roter Faden bis in die Gegenwart. Dabei geht es nicht darum, wie viel man weiß, sondern, wie intensiv man studiert. Dieses Prinzip wurde im Zuge der Emanzipation der Juden und der jüdischen Aufklärung, der Haskala, auch immer mehr auf weltliche Inhalte übertragen. In dieser Zeit entwickelte sich gerade in Deutschland ein jüdisches, säkulares Schulwesen. Und auch ein Blick ins deutsche Judentum des 19. Und 20. Jahrhunderts zeigt: Jüdisches Lernen orientierte sich zunehmend an den Berufszielen des städtischen Bürgertums; jüdische Familien legten großen Wert auf eine "höhere Bildung". Selbst Juden auf dem Land taten alles, um vor allem ihren Söhnen das Lernen an weiterbildenden Schulen und Universitäten zu ermöglichen. Und, Bildung bekam in Zeiten von Pogromen und Verfolgung eine weitere, wichtige Funktion:
"Ich glaube, es war identitätsstiftend. Weil der Talmud ist sozusagen das Heimatland, womit man in die Diaspora gezogen ist, das war immer ein Stück Heimat, und damit Identität. Überall, wo man war. Und, das ist doch klar: Je größer der Druck von außen, desto höher die Bindungskräfte innen."
Lernen als geistiger Widerstand. Und, auch hier wiederum: Lernen als geistiges Eigentum, das Einem niemand nehmen kann.
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