Schavan erwartet rasche Einigung bei Hochschulpakt

Moderation: Margarete Limberg und Norbert Wassmund · 06.05.2006
Nach der Ankündigung eines Hochschulpakts zwischen Bund und Ländern sieht die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, gute Chancen für eine Einigung über die Finanzierung. Der Grundgedanke einer solchen Vereinbarung sei es, die Forschung zu stärken und die Länder zu entlasten, sagte die CDU-Politikerin.
Deutschlandradio Kultur: Frau Schavan, seit rund einem halben Jahr haben Sie Ihren ständigen Arbeitsplatz und sicher auch Ihren Lebensmittelpunkt in Berlin als Mitglied der Bundesregierung. Sind Sie im Zentrum der Macht? Üben Sie als Bundesministerin auch Macht aus, speziell in Ihrem Fachbereich Bildung und Forschung?

Annette Schavan: Politik hat immer auch mit Macht, mit der Organisation von Mehrheit zu tun. Politik muss sich aber vor allem durch Substanz auszeichnen, durch Konzepte, die tragfähig sind.

Deutschlandradio Kultur: Ist Ihnen der Wechsel von Stuttgart, wo Sie ja viele Jahre Ministerin in der Landesregierung von Baden-Württemberg waren, nach Berlin leicht gefallen?

Schavan: Ja! Denn zehn Jahre im Amt einer Kultusministerin ist eine gute Zeitspanne. Es war möglich, viel zu verwirklichen und ich habe wertvolle Erfahrungen sammeln können für die neue Aufgabe, jetzt Forschungspolitik zu gestalten, also an dem Schlüssel mitzudrehen, der Grundlage für Innovation und Entwicklung ist, und das vor allen Dingen in einer Zeit, in der sich Forschungspolitik immer mehr als internationale Politik entwickelt.

Deutschlandradio Kultur: Frau Schavan, das Bildungssystem in Deutschland ist nicht nur in die Kritik geraten, es ist nicht erst seit PISA geradezu verrufen. Es gibt so viele schlecht ausgebildete junge Menschen in Deutschland. Es ist von einer im Vergleich zu anderen Ländern enormen Ausprägung von Bildungsarmut die Rede. Es gibt alarmierende Zahlen. Zehn Prozent sind ohne Hauptschulabschluss, über zehn Prozent ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Mehr als 22 Prozent der Schüler bleiben auf der – wie es so schön heißt – "untersten Kompetenzstufe" stehen. Warum sind die Bildungsweichen nicht rechtzeitig gestellt worden? Gab es kein richtiges Interesse in Deutschland an der Bildungspolitik?

Schavan: Die Bildungspolitik ist zu lange auf der Schattenseite des öffentlichen Gesprächs gewesen. Es ist nicht allein eine Frage der Politik gewesen. Die Gesellschaft als ganze hat unterschätzt, dass sie mehr Leidenschaft für Bildung und Erziehung braucht. Deshalb hat uns auch lange Zeit das empirische Fundament gefehlt. Es ist zu viel darüber geredet worden, wem was gefällt. Jetzt ist klar: Schule, Jugendarbeit, Elternhäuser, Unternehmen… sie alle sind gefordert, an besserer und mehr Bildung mitzuwirken.

Deutschlandradio Kultur: Aber eine richtige Bildungsoffensive ist ja noch nicht in Gang gekommen!

Schavan: Es gibt sehr interessante Ansätze, übrigens auch in Schulen, die längst auf einem hohen, auf einem exzellenten internationalen Niveau sind. Ich bin also dafür beides zu tun, öffentlich besser zur Kenntnis zu nehmen, wo wir exzellente Bildungsstandorte haben, sie deutlich zu machen, deren Rezepte deutlich zu machen, und auf der anderen Seite gezielt Strategien an den großen Schwachstellen zu entwickeln, neue Schwerpunkte zu setzen. Das heißt für mich: Ernst machen mit frühkindlicher Bildung, das heißt, die Nahtstelle zwischen Bildung und Beschäftigung. Jeder Jugendliche muss eine qualifizierte Ausbildung bekommen. Das geschieht nicht über zentrale Aktivitäten, sondern das geschieht über mehr Selbständigkeit für die einzelne Schule, über mehr auch Esprit, was konzeptionelle Ansätze angeht, und – noch einmal gesagt – der Schlüssel: Wer PISA-Siegerländer sieht, sieht Gesellschaften, die leidenschaftlich sind, wenn es um Bildung geht.

Deutschlandradio Kultur: Warum sind wir das nicht?

Schavan: Weil wir zu lange geglaubt haben, Wohlstand fällt vom Himmel.

Deutschlandradio Kultur: Man muss ja schon sehr früh anfangen mit der Bildung. Das heißt, es fängt im vorschulischen Alter ja an. Sie haben Bildungshäuser für Drei- bis Zehnjährige gefordert. Was muss man sich darunter vorstellen?

Schavan: Die demographische Entwicklung ist so, dass in den kommenden Jahren – so wie wir es aus den neuen Bundesländern jetzt schon kennen – Kinderzahlen zurückgehen. Es wird die Standortfrage gestellt werden. Kann diese Gemeinde noch einen Kindergarten halten? Kann sie ihre Grundschule halten? Da drohen ganze Regionen ohne Schule zu werden. Das ist eine Situation, wo strukturpolitisch eine neue Antwort her muss. Auch die kleine Gemeinde braucht einen Bildungsstandort. Deshalb – finde ich – liegt nahe, Kindergarten und Grundschule so zueinander zu führen, dass sich daraus ein Standort ergeben kann. Und das Zweite: Wir wissen, das Alter zwischen drei und sechs ist ein ganz ergiebiges Alter für Lernen. Da werden Kinder geprägt. Deshalb ist es pädagogisch sinnvoll, diese Zeit zu nutzen. Übrigens auch, um die größte Quelle für Chancenungerechtigkeit endlich zu entdecken und darauf zu reagieren.

Deutschlandradio Kultur: Widersprüchliche Meldungen aus dem deutschen Bildungssystem gibt es und gab es: einerseits von unten aus den Hauptschulen, wo angeblich anarchische Zustände herrschen und Bildung auf niedrigstem Niveau, andererseits sprunghaft gestiegenes neues Gymnasiasteninteresse an alten Sprachen. Wohin tendiert denn die schulische Ausbildung?

Schavan: Diesen beiden Feststellungen könnte man übrigens viele andere hinzufügen über neue Entwicklungen, etwa den Stellenwert, der plötzlich Gott sei Dank der Kunst und Musik wieder gegeben wird. Es ist ein bunter Strauß an Entwicklungen. Genau das ist wichtig, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, ein Bildungssystem wird gut, wenn es ganz viel Staat gibt, der regelt. Jedes internationale Gutachten sagt, in Deutschland gibt es zu viel Bürokratie, zu viel Reglement. Vertraut den Kräften vor Ort! Das ist das eine. Das zweite ist: Wir müssen in der Tat darauf achten, dass eine Entwicklung nicht so geht, dass wir immer mehr Modernisierungsverlierer haben. Die Förderung benachteiligter Jugendlicher muss so, wie ich eben von der frühkindlichen Bildung gesprochen habe, ein ganz großer Schwerpunkt sein mit Zielvorgaben. Wir können nicht akzeptieren, dass so viele Jugendliche ohne Zukunftschancen bleiben. Da muss investiert, da muss vor allem aber begleitet werden. Das ist eine viel kompliziertere Geschichte, als nur Geld zu geben. Diese Jugendlichen müssen erfahren, dass sie gebraucht werden, dass sie etwas können, dass sie eine Chance bekommen.

Deutschlandradio Kultur: Das bezieht sich auch auf die Initiative, die Sie ja angekündigt haben, berufliche Bildung zu modernisieren, also neue Wege der nachschulischen Ausbildung, besser Qualifikation?

Schavan: Ja, bessere Verbindung von Erstausbildung und Weiterbildung, Konzepte für zweite Chance, nicht Warteschleife, sondern Jugendliche haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen sagen, das und das ist jetzt an Bildungsmöglichkeit da, kann an Fähigkeiten erworben werden. Sie müssen das einbringen können in weitere Elemente. Noch einmal: Das Herzstück ist dann und der Erfolg hängt daran: Macht dieser Jugendliche die Erfahrung, dass er gebraucht wird, dass er etwas leisten kann?

Deutschlandradio Kultur: Es liegt ja nicht nur die vorschulische, die Hauptschulausbildung im Argen. In der Berufsbildung gibt es nicht nur Mängel, sondern auch die Hochschulen schreien Alarm. Das hängt natürlich auch zusammen mit der anstehenden Föderalismusreform, die eben manche Hochschulrektoren doch mit Sorge in die Zukunft blicken lässt. Die Hochschulen brauchen mehr Geld, um ihrem Auftrag als qualifizierte Lehr- und Forschungseinrichtungen gerecht zu werden. Die Studentenzahlen werden dramatisch ansteigen. Schon jetzt sagen Experten, dass in den verbleibenden Jahren bis 2008, dann rechnet man damit, dass 2,7 statt heute 1,9 Millionen an den deutschen Universitäten und Hochschulen studieren werden, die nötigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Muss nicht sofort und wirkungsvoll und schnell reagiert werden?

Schavan: Die Länder werden sich diesen Aufgaben stellen. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Situationen, wie sich dieser Zuwachs der Studierendenzahlen entwickelt. Wir haben in den neuen Bundesländern ja schon jetzt eine Situation, dass aufgrund der demographischen Entwicklung stark rückläufige Zahlen da sind. Aber insgesamt wird es mehr Studierende geben. Das ist eine Chance für Deutschland. Das ist nicht eine Last. Deshalb müssen Bund und Länder und auch die Hochschulen selbst jetzt die Strategien entwickeln, um entsprechende Kapazitätsentwicklung zu ermöglichen, übrigens auch im Blick auf die Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge. Und ich gehe davon aus, dass dieses Jahr jetzt genutzt wird, um bis zum Ende des Jahres entsprechende Vorschläge der Länder und des Bundes zuwege zu bringen.

Deutschlandradio Kultur: Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel, hat ein gemeinsames Hilfsprogramm von Bund und Ländern gefordert und für den Fall, dass das nicht geschieht, sogar an die Wand gemalt, dass man dann Hörsäle schließen müsse.

Schavan: Ich finde, dass niemand in dieser Diskussion öffentlich so Bilder und Szenarien entwickeln sollte, die in jungen Leuten vor allen Dingen den Eindruck entwickeln, dass sie uns lästig sind. Es ist eine Chance, die wir da haben, und die müssen wir nutzen. Deshalb gibt es für mich derzeit keinen Anlass anzunehmen, dass wir nicht etwas zuwege bringen. Und es gibt für mich auch keinen Anlass anzunehmen, dass den Wissenschaftsministern oder Ministerpräsidenten egal ist, ob in ihrem Land Studierende gute Studienbedingungen vorfinden. Das ist eine zentrale Aufgabe, die mit über die Innovationsfähigkeit unseres Landes und die Zukunftschancen der jungen Generation entscheidet. Und deshalb werden die nächsten Monate genutzt und jeder, der eine gute Idee hat, ist willkommen.

Deutschlandradio Kultur: Sie hatten ja die Idee eines Hochschulpaktes zwischen Bund und Ländern. Da gibt es aber jetzt schon in der Anfangsphase Einwände. Der baden-württembergische Wissenschaftsminister Frankenberg sieht schwierige Verhandlungen voraus, weil eben auch die Interessenlage der Länder untereinander sehr unterschiedlich ist. Mit welchen Erwartungen gehen Sie in die weiteren Verhandlungen? Wann wird es so weit sein, dass ein solcher Pakt geschlossen werden kann?

Schavan: Bis Ende des Jahres werden wir den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin die Vorschläge für eine Vereinbarung vorlegen. Denn es muss ja eine Vereinbarung sein, hinter der jeweils eine ganze Regierung steht. Und dass das schwierig ist, wusste jeder vorher. Denn die Lage der 16 Länder ist höchst unterschiedlich. Also muss es unterschiedliche Elemente geben, womit man dieser Verschiedenheit gerecht wird, die dann tatsächlich zu mehr Studienplätzen führen. Also, zwölf Monate ist kein zu langer Zeitraum, um dann etwas Gutes zustande zu bringen.

Deutschlandradio Kultur: Sie kennen sich ja auf Bundes- wie auf Landesebene aus. Wo sehen Sie die Ansätze, die Möglichkeiten, um das große Problem zu lösen? Und gibt es wirklich so große Differenzen zwischen Bund und Ländern?

Schavan: Es gibt keine Differenzen zwischen Bund und Ländern, es gibt unter den Ländern – so hat es Kollege Frankenberg ja auch gesagt – noch viel zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass diese Situation jetzt die Chance zu einem so intensiven wissenschaftspolitischen Dialog ist, wie wir ihn in der Politik seit langem nicht geführt haben. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern war in den letzten Jahren äußerst gespannt. Wir haben jetzt eine entspannte Gesprächsatmosphäre, einen wirklich guten Dialog. Deshalb ist der Grundgedanke: Wie kann der Bund, der in dieser Legislaturperiode so viel in Forschung und Entwicklung investiert, wie nie eine Regierung zuvor, wie kann mit diesen Möglichkeiten auch Forschung so gestärkt werden, dass dies zu Entlastung für die Länder führt, die dann unmittelbar in Lehre umgesetzt werden kann? Das ist der Grundgedanke. Und jetzt ist die Aufgabe, diesen Grundgedanken so umzusetzen, also Instrumente zu finden, mit denen das gelingen kann und von denen man da sagt, wo Unterstützung notwendig ist, das ist wirksam, das ist hilfreich.

Deutschlandradio Kultur: Es fürchten ja vor allen Dingen die wirtschaftlich schwachen Länder und vor allem auch die in Ostdeutschland, dass sie unter die Räder kommen, wenn sich der Bund im Zuge der Föderalismusreform aus bestimmten Bereichen zurückziehen muss, also dann nicht mehr in der Lage ist, sie in bestimmten Bereichen zu unterstützen. Fürchten Sie nicht auch, dass zwischen armen und reichen Ländern, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd die Kluft zunimmt?

Schavan: Alle Ausgleichssysteme der Vergangenheit – und es gab immer mehr davon – haben nicht bewirken können, dass nicht von Arm und Reich gesprochen wird. Deshalb glaube ich, einfach nur mehr Ausgleichssysteme helfen nicht weiter. Wir werden stärkere Kooperationen zwischen einzelnen, vor allem kleinen Ländern erleben, damit verbundene Akzentsetzungen im Bereich der Hochschule. Für die Lehre war der Bund nie zuständig. Das ist keine Veränderung gegenüber früher. Neue Steuerungsinstrumente, wie zum Beispiel eine solche Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, mehr Möglichkeiten in der Forschung, werden auch denen helfen können, die jetzt finanzpolitisch in schwierigstem Fahrwasser sind.

Deutschlandradio Kultur: Frau Schavan, wir haben jetzt über die Seite der Politik gesprochen, über Bund und Länder, was diese tun sollen oder tun müssen. Was können die Hochschulen selbst machen?

Schavan: Wir haben großartige Hochschulen in Deutschland mit sehr unterschiedlichen Profilen. Sie sollten – so wie es von uns erwartet wird – diese jungen Leute als Chance sehen und überlegen, wie sie strukturell ihre Universität so aufstellen, dass eben vorübergehend mehr Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden. Ich glaube, das ist auch eine Frage einer aufgeschlossenen und positiven Mentalität gegenüber jungen Leuten. Die Politik wird unterstützen. Die Bundesregierung hat die Frage von Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationspolitik zu einem Schwerpunkt gemacht. Ich glaube, dass da mancher Universität noch manches einfallen wird, um ihre Kapazität zu erhöhen.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass die Hochschulen auch so beweglich sind, so kreativ sind, selbst etwas in die Hand nehmen zu müssen – Stichwort Autonomie?

Schavan: Ich bin zuversichtlich, dass die Kreativen unter den Universitäten so vorangehen, dass die anderen Feuer fangen.

Deutschlandradio Kultur: Stichwort Autonomie, Verantwortung. Ein anderer Punkt, den wir noch gerne ansprechen möchten, ist ja die Diskussion über Werte in Deutschland. Sie haben einmal gesagt, in Deutschland fehle ein Klima der Verbindlichkeit, ein Bewusstsein dafür, dass jeder seinen Teil der Verantwortung zu tragen hat. Kürzlich haben Sie eine gesellschaftliche Rückbesinnung auf Tugenden gefordert. Was meinen Sie damit?

Schavan: Damit meine ich, dass nicht jeder Freiheit für sich beanspruchen kann und zugleich Gerechtigkeit und Solidarität vor allem als eine Angelegenheit des Staates betrachtet. Darunter meine ich eine Entwicklung, in der die Gesellschaft, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Chancen und auch ihr Gewissen für das Ganze schärfen. Wir führen ja im Moment so eine Diskussion über mehr oder weniger Staat. Die ist oft missverständlich, weil die einen beruhigen sich mit der Rede von vorsorgendem Staat, die anderen haben Befürchtungen, dass möglicherweise, wo nicht genügend Staat da ist, es Verlierer geben wird. Ich glaube, wir sollten stärker über einen Emanzipationsprozess der Gesellschaft sprechen, über Grundhaltungen, über Tugenden, nicht nur frei sein zu wollen, sondern auch Gerechtigkeit zu üben, solidarisch zu sein, dass zu sehen, was Menschen bewirken können, was Menschen – wenn sie ein Gewissen für das Ganze haben – auch an Veränderung in einer Gesellschaft schaffen. Die Vorstellung, dass die Politik, der Staat die Atmosphäre, die Humanität einer Gesellschaft alleine gewährleisten könne, war immer falsch. Und Gott sei Dank ist das jetzt auch Thema.

Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem gibt es zur Zeit natürlich so was wie eine Ellenbogenmentalität in der Gesellschaft, das Beziehen auf Ich, auf Vereinsamung, gerade bei den Jugendlichen, also gar nicht mal so das Öffnen und das Umgehen mit Toleranz und mit Kommunikation, sondern auch – durch viele Medien beeinflusst – der Rückzug auf sich selber, auf das Privatleben. Wie kann da eigentlich eine Werteneuorientierung relativ zügig auch stattfinden?

Schavan: Es gibt das von Ihnen Geschilderte, es gibt aber auch das Gegenteil. Es gibt viele junge Leute, die sich engagieren Es gibt viele Bürger und Bürgerinnen, die überhaupt nicht auf einem solchen inneren Rückzug sind, sondern die so selbstbewusst sind und auch so ein Selbstverständnis davon haben, dass sie sich für diese Gesellschaft interessieren. Und übrigens, jede Analyse über Regionen in Deutschland zeigt doch, dass die meiste Innovationskraft, wo Bürgerinnen und Bürger sagen, uns interessiert, was in dieser Gemeinde geschieht, wir beteiligen uns daran, und eine junge Generation dieses öffentliche Engagement sucht... Über gute Beispiele muss geredet werden. Die Politik muss sich verabschieden von der Vorstellung, sie könne die einzig prägende Kraft in einer solchen Gesellschaft sein.

Deutschlandradio Kultur: Frau Schavan, Sie sind ja nicht nur Bildungs- und Forschungsministerin, Sie sind auch stellvertretende CDU-Vorsitzende. Ihre Partei debattiert – wie auch die Sozialdemokraten – ein neues Programm. In dieser Debatte werden ja sicherlich die Fragen, die wir gerade angesprochen haben, auch eine Rolle spielen. Die Richtung scheint in der CDU noch nicht ganz klar zu sein. Es gibt Auseinandersetzungen zwischen den so genannten Marktradikalen, wie ich sie mal nennen will, und auf der anderen Seite dem Arbeitnehmerflügel, der die Sicherung des Sozialstaats, Gerechtigkeit und Solidarität auf seine Fahnen geschrieben hat, der einen allzu technokratischen Kurs, der womöglich vielen Menschen Angst macht und bei dem die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, ablehnt. Wo soll denn die Reise Ihrer Ansicht nach hingehen?

Schavan: Die Gründungsgeschichte der CDU und die bisherige Entwicklung wird uns vor Technokratie bewahren, denn die CDU ist aus drei großen Traditionen gegründet worden, der christlich-sozialen, der liberalen, der konservativen. Da verbietet sich Technokratie. Die Kraft der Christlich-Demokratischen Union muss sein, immer wieder neue Integrationsprozesse zu schaffen. So wie das am Anfang war zwischen Konfessionen, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, so gibt es heute vielfältig neue notwendige Integrationsprozesse. Und das ist für mich übrigens das Herzstück der Aufgabe an diesem neuen Grundsatzprogramm, dass es uns gelingt zu sagen, welche und wie wir solche jetzt anstehenden Integrationsprozesse leisten zwischen denen, die drohen Modernisierungsverlierer zu werden, und jenen, die alle Möglichkeiten haben, zwischen Menschen, die hier geboren wurden, und solchen, die zu uns gekommen sind. Integration auch im Blick auf den internationalen Dialog, im Blick auf Entwicklung in der Welt, das ist unsere Aufgabe als CDU, so finde ich. Und darüber wird manche Debatte, die wie Querele aussieht, vielleicht zu einem Impuls werden können, um sich auf das zu konzentrieren, was den Markenkern der CDU ausmacht.

Deutschlandradio Kultur: Angela Merkel hat sich ja zeitweise als eine radikale Reformerin dargestellt – auf dem Leipziger Parteitag 2004, aber auch im Wahlkampf. Die CDU ist dafür bei den Bundestagswahlen mit Stimmverlusten bestraft worden und seither ist von diesen radikalen Reformen keine Rede mehr. Auch wenn man jetzt versteht, warum ein Kurswechsel stattgefunden hat, auch vor dem Hintergrund der großen Koalition natürlich, ist doch die Frage, ob so etwas nicht die Glaubwürdigkeit der Politik beschädigt.

Schavan: Die CDU hat unter der Führung von Angela Merkel konsequent Konzepte für die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme entwickelt. Da war viel Ungewohntes dabei. Ungewohntes braucht Zeit, um akzeptabel zu werden. Jetzt sind wir in einer großen Koalition und können von dem, was uns wichtig ist, das verwirklichen, was in dieser Konstellation geht. Die hat sich die Politik nicht selbst ausgesucht, das ist das Ergebnis der Wahl. Deshalb ist es kein Gesinnungswandel, sondern wir, diese Kanzlerin stellt sich der Verantwortung und der Aufgabe, die ihr gestellt ist.

Deutschlandradio Kultur: Noch eine Frage vielleicht zur Stimmung im Kabinett: Gibt es da eine spezielle Solidarität der Ministerinnen untereinander? Also, schart man sich zum Beispiel um jemanden wie die Familienministerin Frau von der Leyen, die ja in der Presse zum Teil in der Öffentlichkeit doch mit großer Häme, muss man manchmal schon sagen, bedacht wird?

Schavan: Ursula von der Leyen hat einen großen Rückhalt im Kabinett, ganz gewiss bei uns Frauen. Das weiß sie auch. Das kann sie in der alltäglichen Arbeit erfahren. Aber das geht weit über die Frauensolidarität hinaus. Im Übrigen gibt es, obgleich wir wissen, dass jeder Partner in dieser Koalition auch auf manches verzichten muss, was ihm wichtig wäre, trotz auch unterschiedlicher Philosophien, die es gibt und die man auch nicht leugnen sollte, menschlich ein sehr angenehmes Miteinander und eine unspektakuläre Art zu arbeiten, weil wir wissen, dass diese Jahre genutzt werden müssen, sie nicht vergeudet werden dürfen für Spektakel.

Deutschlandradio Kultur: Frau Schavan, wir danken Ihnen für das Gespräch.