Saufen bis zur totalen Ernüchterung

Vom langen Kampf gegen den Alkohol

Ein Schnapstrinker des Mittelalters in einer Szene des neuen Schnaps-Museums der Altenburger Destillerie & Liqueurfabrik GmbH (Foto vom 10.05.2006).
"Saufteufel": Schon im Mittelalter wurde gerne Schnaps getrunken. © dpa / Jan-Peter Kasper
Von Tobias Barth und Lorenz Hoffmann · 01.03.2017
Schon seit Jahrhunderten gibt es Kampagnen gegen den "Teufel" Alkohol. Doch hochprozentige Flüssigkeiten sind offenbar ein schwerer Gegner. Bis heute hinterlässt die Trunksucht ihre Spuren der Verwüstung in Körpern und Gesellschaften. Wir schauen ernüchtert zurück.
Unter der Haut liegen die Folgen der Sucht verborgen. Um sie sichtbar zu machen, sind wir an der Martin-Luther-Universität verabredet, im Institut für Anatomie und Zellbiologie:
"Hier ist die Leber, 1500 Gramm schwer, ja. Unversehrt, völlig in Ordnung, die Oberfläche. Und jetzt zeige ich ihnen eine kranke Leber mit Zirrhose."
Professor Rüdiger Schultka leitet die Meckelsche Sammlung, mit 8000 Präparaten die umfangreichste anatomische Sammlung Deutschlands. Wir gehen an Regalen voller Schädel und Knochen vorbei, dann öffnet Herr Schultka einen Vitrinenschrank:
"Das ist 'ne Leberzirrhose, sehen Sie das? Höckrig die Oberfläche, bindegewebig durchsetzt, und da sehen sie auch die Areale sehr schön. Es ist so, dass die Leber das größte Stoffwechselorgan unseres Körpers ist, ein ganz wichtiges Organ und wenn die Leber geschädigt wird, dann sieht es böse aus. Alkohol ist eine ganz üble Noxe für die Leber, da gibt es überhaupt keinen Zweifel!"
Alkohol schadet der Gesundheit und schadet der Gesellschaft. Seit mehr als 500 Jahren wird der Kampf gegen Alkohol mit Vehemenz geführt.
"Wenn nun ein Saufteufel ein Menschen einnimmt, so sind die anderen Lasterteufel auch nicht weit von ihm. Es ist kein Laster, wodurch ein Mensch seiner Sinnen und Verlust also beraubt wird als dies."
Der Görlitzer Pfarrherr Matthäus Friedrich um 1540 in seiner von Martin Luther inspirierten Predigt "Wider den Saufteufel".

Luther beschwerte sich über die saufenden Germanen

"Des Morgens, wenn er aufsteht, findet er sich noch beschweret, der Kopf tut ihm wehe, der ganze Leib ist matt, wie er zerschlagen war. Da folget auch alsdenn der Schwindel, rote Augen, mancherlei Flüsse, Schnupfen, Schnuder, Halsgeschwer, Brustgeschwer, Fäule an Lunge und Leber, böser Magen, Colica, Heffmutter, Stranguria, Tunckelheit der Augen, böse Gedächtnis, Taubheit, Lähme der Glieder, Zittern der Hände, Zipperlein, der Schlag, Fallende Sucht, der Krampf, der Stein, Wassersucht, Gelbsucht, Reude: Endlich folget Vorkurzung des Lebens, dass er ehr der Zeit sterben muss."
Stefan Rhein: "Luther hat sich tatsächlich oft beschwert über das saufende Volk der Germanen, er nimmt ein Stereotyp auf, was schon Tacitus immer wieder über die Deutschen anwendet, das ist ein trinksüchtiges Volk."
Stefan Rhein hat klassische Philologie studiert und leitet die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.
Stefan Rhein: "Und in der Tat, man hat sehr viel getrunken, man hat ja auch sein Bier selber gebraut, also in Wittenberg die Hälfte aller Haushalte hatte eine eigene Bierbrauerei im Haus oder Garten. Dazu zählte natürlich auch das Lutherhaus, denn Bürgerrecht hieß Braurecht. Und Braurecht Bürgerrecht."
Stefan Rhein ist rheinländischer Katholik und hat neben vielen wissenschaftlichen Publikationen auch ein Büchlein über Martin Luther und den Wein geschrieben.
"Man hat nicht Wasser getrunken, Wasser war unrein, da konnten Krankheiten transportiert werden, Milch war zu teuer, das bekamen nur kleine Kinder, also das Alltagsgetränk war Bier, Leichtbier. Aber ein Zustand ständigen Angetrunken-Seins, das muss der Alltagszustand gewesen sein."
Die Kulturwissenschaft schildert das 16. Jahrhundert als das Jahrhundert des Saufens und Fressens: Der seit etwa 1400 aus Italien herüberschwappende Renaissancegedanke feierte die Sinnenlust, den Überschwang, den Rausch.
"Wie ein Wolkenbruch und eine Sündflut sind Völlerei und Trunkenheit in Deutschland eingerissen // Wenn man Deutschland malen wollte, müsste man eine Sau malen."

Calvin lässt 1546 alle Wirtshäuser in Genf aufheben

Wettert Martin Luther. Für den Reformator wird durch Trunksucht die Wachsamkeit im Kampf gegen den Teufel abgeschwächt, das Beten und jede christliche Haltung verhindert. Seine Reformatoren-Kollegen, Zwingli in Zürich und Calvin in Genf, versuchen, die gotteslästerliche Sauferey durch administrative Maßnahmen zu bekämpfen, Calvin lässt 1546 alle Wirtshäuser in Genf aufheben und stattdessen fünf sogenannten Abteien einrichten. Im Grunde sind das Klubhäuser, in denen man vor den Mahlzeiten betet und Alkohol nur bis 9 Uhr abends ausgeschenkt werden darf. Luther kann sich zu solch prohibitiven Maßnahmen nicht durchringen.
Stefan Rhein: "Die Gefahr ist der Teufel. Und der Teufel ist eben auch: Traurigkeit, der Teufel ist auch zu wenig, gar kein Alkohol, der Teufel ist aber natürlich auch zu viel Alkohol. Und Gott der setzt das Maß, und gottgefällig leben ist freudig und gesellig leben."
Seit Luthers Reformation ist in Sachen Alkoholkonsum die Idee der Mäßigkeit in der Welt. Die Frage nach dem rechten Maß – sie wird die nächsten Jahrhunderte prägen.
"Man sieht beim Sacramente der Heiligen Taufe taumelnde Zeugen und der erschrockene Geistliche ist besorgt, dass die Gevattern nebst dem Kindlein nieder stürzen; man sieht angehende Eheleute am Altare versammelt und weil der Bräutigam zu Boden sinkt muss die religiöse Feier einen Aufschub erleiden."
Ein Pfarrer aus dem Hannoverschen vermeldet um 1830 gar fürchterliche Exzesse:
"Man bemerkt unter den Zeugen bei Trauungen solche, welche das Gotteshaus beschmutzen, nachdem der vorgehaltene und überfließende Hut den Unrat nicht mehr fassen will. Im Branntweinrausche balgt man sich auf den Beerdigungen. Der trunkene Sohn wird auf demselben Wagen vom Kirchhofe nachhause gefahren, auf welchem die Leiche seines Vaters zu Grabe gebracht war. Die christlichen Feste werden an vielen Orten zu wahren Branntwein-Bacchanalien."
Sabine Schaller: "Was ich zu 1800 sagen kann, ist das Branntwein ein sehr beliebtes Getränk war in Deutschland. Branntwein konnte ja ganz billig hergestellt werden, aus Kartoffeln. und war im Prinzip für jeden verfügbar. und es konnte auch jeder herstellen."
Sabine Schaller leitet in Magdeburg eine Spezialbibliothek zum Thema Alkohol und Sucht. In sozialhistorischen Studien hat sie sich mit dem Geist der deutschen Mäßigkeitsbewegung beschäftigt.
Sabine Schaller: "Demzufolge gab es viel Zuspruch und viele Konsequenzen aus dem Konsum, wozu auch gesundheitliche und soziale Probleme gehörten und das weckte die Aufmerksamkeit der Obrigkeit, die sahen da große Gefahren."
Bayerisches Bier und eine Brezel auf Holz 
Bayerisches Bier und eine Brezel auf Holz © imago stock&people

Mäßigkeitsbewegung ab 1820 richtete sich gegen den Branntwein

Die harten Spirituosen werden ein Risikofaktor: Der Branntweinrausch untergräbt die Arbeitsmoral bei Tagelöhnern, Land- und Fabrikarbeitern, und er zersetzt die Wehrkraft. Es gibt Berichte, dass es den Werbern für das Militär immer schwerer fällt, nüchterne Burschen zu finden.
Sabine Schaller: "Also da setzten schon die ersten Gegenbewegungen ein. Und es entstand die erste deutsche Mäßigkeitsbewegung, die sich in erster Line gegen den Branntwein richtete, nicht gegen Alkohol, sondern Branntwein. Und es entstanden dann ab 1820, Höhepunkt 1840er Jahre die Vereine gegen den Branntwein."
Wohlgemerkt: Die Mäßigkeitsbewegung im frühen 19. Jahrhundert richtet sich gegen den Branntwein, nicht gegen den Alkoholkonsum an sich. Alkohol galt seit dem Mittelalter als als Lebenswasser. Er wurde medizinisch und ganz alltäglich angewendet: Kleinkinder bekamen Bier zur Beruhigung, größere Kinder und schwangere Frauen Rotwein zur Stärkung. Nun aber – es ist die Zeit der frühen Industrialisierung, des Biedermeier und der Restauration - findet der billige Schnaps massenweise Verbreitung. Auf dem Land sind es die Pfarrer und in der Stadt Beamte, die das Getränk des Pöbels für die sozialen Probleme verantwortlich machen: 1834 – da schreibt Georg Büchner "Friede den Hütten - Krieg den Palästen!" heißt es in einer norddeutschen Zeitung:
"Die wahre Ursache der Verarmung liegt offenbar in der für diesen Stand zu horriblen Verschwendung in diesem Genussmittel. Wir können durch vorliegende Listen nachweisen, dass mehr denn drei Viertel jener total Armen und Dürftigen durch Branntweintrinken und Trunkfälligkeit in ihre hülflose Lage gesunken sind."
Ein Branntweingegner berechnet aus der Polizeistatistik der Stadt Hildesheim, dass 1840 über zwei Drittel der Verbrechen durch Branntwein verursacht seien. Als da wären:
"Trunkenheitsskandal, Ruhestörung, Dienst- und zweckloses Umhertreiben. Liederlicher Lebenswandel. Bettelei und Vagabondage, ungenügende Legitimation ungebührliches Benehmen gegen die Polizei, Duldung von Nachtschwärmerei, kleine Veruntreuungen, Diebstahl und Betrug, Widerspenstigkeit gegen die Herrschaft, (…) Schulversäumnis ihrer Kinder, Straßenunfug und so weiter."
Außerdem seien die meisten Morde, Selbstmorde und Kindestötungen unehelicher Kinder dem Branntwein zuzuschreiben. Der Kulturwissenschaftler Hasso Spode konstatiert: "Um die Hütten zu befrieden, rief man zum Krieg gegen den Branntwein auf. Damit hatte sich dem Untertan ein weites Betätigungsfeld abseits der großen Politik aufgetan."

Sabine Schaller: "Ich nehme mal ein Buch heraus. Das ist ein recht schöner Einband aus dem Jahr 1907, eine Schweizer Ausgabe zur Alkoholfrage Mit "Alkoholfrage" wurde die gesellschaftliche Herausforderung jener Zeit benannt, wie gehen wir mit den Konsequenzen des Alkohols, des Alkoholmissbrauchs um. "
Sabine Schaller verwaltet in Magdeburg einen Buchbestand, der wie kein anderer Ort Auskunft gibt über den Kampf gegen den Alkohol im 19. und 20. Jahrhundert.
Sabine Schaller: "Interessantes Buch ist auch dieses hier, von Abderhalden von 1904: Bibliografie der gesamten Literatur über den Alkohol und Alkoholismus. Und hier sind mehrere hundert, tausend Werke aufgelistet, die bis 1904 über Alkoholismus erschienen sind. Ein beachtliches Werk."

"Jeder Trinker war einmal ein mäßiger Trinker"

Die Spezialbibliothek der Fachhochschule Magdeburg-Stendal versammelt 16.000 Titel, eine Vielzahl stammt aus der Zeit von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg.
"Kein Mensch, der sich dem Alkohol hingibt, und sei es auch dem allermäßigsten Weingenuss, kann sich von dem Vorwurf freisprechen, ein Verführer zu sein. Jeder Trinker war einmal ein mäßiger Trinker. Und jeder, der durch sein Beispiel andere zum mäßigen Trinken verleitet, verleitet auch einen Teil derselben zur Unmäßigkeit. Er bringt die Steine ins Rollen und es liegt gar nicht mehr in seiner Macht, sie aufzuhalten."
1886 erscheint eine einflussreiche Schrift des in Basel lehrenden baltischen Arztes Gustav von Bunge. Der nüchterne Titel: "Über die Alkoholfrage".
"Der Vorwurf der Verführung trifft nicht die Unmäßigen. Diese haben im Gegenteil das Verdienst, durch ihr Beispiel abzuschrecken. Die Verführer sind die Mäßigen! Und so lange die Verführung nicht aufhört, wird auch die Unmäßigkeit mit ihren Folgen Krankheit, Wahnsinn und Verbrechen nie aufhören. Wer das nicht einsieht, kennt nicht die Geschichte des Kampfes wider die Trunksucht."
Gustav von Bunges Schrift wird zum Manifest der Abstinenzler, die sich viel radikaler als die Temperenzler geben: Von nun an geht ein Riss durch die Anti-Alkoholbewegung. Die einen wollen Mäßigkeit, die anderen sehen das Heil der Gesellschaft in der totalen Prohibition – also im Verbot alkoholischer Getränke.
Im reichen Vereinsleben der Kaiserzeit bilden sich Abstinenzvereine nach Berufsgruppen. So gibt es die "Abstinenten Philologen deutscher Zunge", Abstinente Ärzte, Enthaltsame Post- und Telegrafenbeamte. Und auch eine wirkungsvolle Frauenorganisation: Der Deutsche Bund abstinenter Frauen.
Sabine Schaller: "Die hatten ein erstes alkoholfreies Restaurant etabliert und hatten Kaffeewagen, so dass die Männer nicht in der Mittagspause in die nächsten Kneipe gehen mussten, also eine mobile alkoholfreie Pausenversorgung."
"Meide Schriften und Ausstellungen, die den Geschlechtstrieb erregen. Vor allem aber meide den Alkohol. Der Alkohol lähmt die Willenskraft und senkt die natürlichen Hemmungen, sodass es dir schwerfällt, enthaltsam zu bleiben."
"Das war eine Sammlung zum Thema Geschlechtskrankheiten", sagt Susanne Roessiger. Sie ist Kuratorin am Deutschen Hygienemuseum in Dresden und präsentiert Fundstücke aus den Depots – in diesem Fall eine Lehrtafel aus den 1920er Jahren.
"Die Abbildung zeigt so ein etwas fragwürdiges Etablissement, Casino, Tänzerin, leicht bekleidet. Und unter dem Text der Blick in eine Kneipe."

Deutsches Hygienemuseum in Dresden kämpft gegen den Alkohol

Seit seiner Gründung 1912 thematisiert das Hygienemuseum den Kampf gegen den Alkohol, produziert Ausstellungen, Schautafeln und Lichtbildreihen – die in ganz Deutschland und weltweit gezeigt werden. Allein eine Million Lichtbilder bringt die Gesundheitsinstitution in den 1920er Jahren in Umlauf. In dieser Zeit zeigt das Museum auch eine "Trinkernase": sehr rot, sehr verformt.
Roessiger: "Das ist eine Moulage, ein Wachsmodell, direkt am Körper abgeformt, über den Schock, huch, das sieht aus wie ich, waren Krankheitsbilder dargestellt. Das ist das Gesicht eines Alkoholikers - das ist für mich schon die Richtung Stigmatisierung. Und es ist bekannt, dass die Rassenhygiene schon begann sich zu etablieren zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und das sind so die ersten Ansätze, wo Verbindungen zur Rassenhygiene gezogen wird."
Gustav Bunge und sein Schweizer Kollege Auguste Forel vertreten schon in den 1890er Jahren die sogenannte Degenerationstheorie: Der Alkoholismus und seine geistigen und körperlichen Folgeerkrankungen würden sich von Generation zu Generation vererben, zur Verweichlichung und schließlich zur Auslöschung der betroffenen Familien führen. Der Psychiater und Eugeniker Ernst Rüdin prägt dafür den Begriff "Alkohol-Ausjäte".
Susanne Roessiger zeigt eine Statistik, die das 1933 gleichgeschaltete Hygienemuseum 1934 in einer Ausstellung zum Thema Rassenhygiene präsentierte.
"Zehn Trinkerfamilien hatten 57 Kinder, davon waren 25 klein gestorben, 6 Idioten, 5 Missbildungen, 5 körperlich Zurückgebliebene, 5 Epileptiker und ein Veitstanz. Und zehn normale."
Roessiger: "Hier ist ganz klar die Zuordnung der Trinker zu den sogenannten erbminderwertigen Rassen. Das ist dann die Position 1933 bis 45, wo die erbgesunde Rasse propagiert wurde und die Trinker ganz klar stigmatisiert wurden und verurteilt wurden."
Dok-Ton Hans Dietel 1937: "Sie wissen, dass 'schwerer Alkoholismus' auch ein Sterilisierungsgrund ist. Man könnte das nicht zu einem Sterilisierungsgrund machen, wenn es keine Erbkrankheit wäre."
Mitschnitt von einem Vortrag zur Vererbungslehre, gehalten auf der Ordensburg Vogelsang vom Kommandanten Hans Dietel vor Führungskadern der NSDAP.
Dok-Ton Hans Dietel 1937: "Den Trinker selbst kann man nicht bessern, den Trinker kann man nur ausmerzen aus dem Volke und man kann ihn in bestimmten Anstalten internieren, damit er nichts weiter anstellt."
Wolfgang Heckmann hat über das Schicksal der als "rassisch verseucht" eingestuften chronischen Alkoholiker während der NS Zeit geforscht.
Heckmann: "Die psychischen Erkrankungen, die Suchtkrankheiten und die Arbeitsscheuen, das waren im Wesentlichen die Punkte, also dass sind die Methoden, um zu sagen, es gibt Erbkrankheiten, die können nicht weiter verbreitet werden. Wir können diese Leute in Zwangslagern, in Arbeitslagern und am Ende auch im KZ unterbringen, dann machen sie sich vor ihrem Tod nochmal ein bisschen nützlich. Man konnte endlich die aus den großen Psychiatrien loswerden, und die ist man losgeworden an der Rampe von Auschwitz."
Wolfgang Heckmann war lange Zeit Drogenbeauftragter in Berlin und forschte als Psychologe auch über das Schicksal der Kinder von Alkoholkranken, die nach der Logik der Rassentheoretiker ebenfalls den Keim des Übels in sich trugen.
Heckmann: "Ja, da gab es das sogenannte Haus 4 in Uchtspringe, da wurden Kinder untergebracht, das war das kinder- und jugendpsychiatrische Haus. Und an denen wurden Experimente vorgenommen – ganz viele von den Lehrbüchern, die ich noch in meinem Studium in den 60er und 70er Jahren gelesen habe, basieren auf solchen Experimenten. Da hab ich auch noch Filme gesehen, da hat man Kinder an den Beinen kopfüber aufgehängt und beobachtet, was passiert, wenn das Blut in den Kopf schießt. Und wenn sie dann verstorben sind an den Experimenten in der Klinik, hat die Gehirne ein gewisser Herr von Weizsäcker in Berlin bekommen, um sie weiter zu untersuchen. Und hat darauf seine Hirnlehre geschrieben."
Die Rede ist von Victor von Weizsäcker, dem Onkel des späteren Bundespräsidenten. Nach 1945 hat er sich als Pionier der Psychosomatik einen Namen gemacht. Eine unrühmliche Rolle spielten während der Nazizeit auch die Abstinenz- und Temperenz-Vereine, wie Wolfgang Heckmann in seinen Forschungen ermittelte. Von Guttemplern bis zum Blauen Kreuz haben sich alle Anti-Alkohol-Vereine bereitwillig gleichschalten lassen.
1949 teilt sich die deutsche Geschichte in West und Ost.
Roessiger: "Putzig ist eben in der 1950er Jahren, da kommt meine Lieblingsdarstellung, von 1956: Der Alkohol, Freund oder Feind? Da sieht man Menschen an einer Litfaß-Säule stehen sie betrachten einen Aushang: 'Theater der Jungen Generation', und drunter steht: In unserem Arbeiter- und Bauernstaat bedürfen die Menschen nicht mehr des Alkohols, um glücklich zu sein!"
Viele Schnapsflaschen stehen vor einer beleuchteten, farbigen Wand in einem Restaurant in Leipzig.
Viele Schnapsflaschen stehen vor einer beleuchteten, farbigen Wand in einem Restaurant in Leipzig.© pa/dpa/Heinz

Walter Ulbricht verabscheute Alkohol

Nach 1949 erarbeitet das Dresdner Hygienemuseum Ausstellungen und Kampagnen für das Gesundheitsministerium der DDR. Deren Alkoholpolitik zielt in den frühen Jahren sehr auf Mäßigung.
Thomas Kochan: "Gastronomisch war das eine Wüste, die DDR. Das hat alles seine Ursachen auch in der Anti-Kneipen-Politik der Ulbricht-Ära. Ulbricht selbst verabscheute Alkohol und hat das ein Stück weit in der frühen Politik auch durchsetzen wollen."
Der Ethnologe Thomas Kochan hat über Alkoholkonsum und Alkoholpolitik in der DDR geforscht. Und festgestellt, dass der innerparteiliche Diskurs der 50er Jahre stark vom Abstinenzgedanken geprägt war. Den hatten einige der führenden Genossen in den natur- und reformbewegten Arbeiterorganisationen der 1910er und 20er Jahre erlebt und verinnerlicht.
"Das war eben zum einen der Kampf gegen die dunkle Eck-Kneipe, in der das Proletariat versumpft und sich nicht am Aufbau der Gesellschaft beteiligt, und das war der Kampf gegen Spirituosen."
Ulbrichts Kampf gegen die Eckkneipe bringt eine sozialistische Errungenschaft hervor: die Klubgaststätte, in der die Arbeiter und Bauern sich in gepflegtem Ambiente bei Limo und Bier von der sozialistischen Aufbauarbeit erholen, Soljanka, Würzfleisch und Mixgetränke verzehren können. Alles in Maßen und unter der Losung: Bitte warten, Sie werden platziert!
Und im Westen? Da wird zeitgleich das Wirtschaftswunder gefeiert. Und natürlich mit edlen Tropfen auf den neuen Wohlstand angestoßen. Ein Werbespot von 1954:
"Mami, sieh mal dort im Schaufenster! - Was denn Kleines, da stehen doch lauter Weinbrand- und Likörflaschen. - Ja, Mami, da ist aber die Flasche, die du Papi geschenkt hast. Duhjardien. - Weißt du, wenn Papi nach Hause kommt und macht so ein ernstes Gesicht, dann nimmt er die Flasche Duh...- Dujardin! - ...und trinkt ein Schlückchen. Dann schnüffelt er so lustig mit der Nase. Und zwinkert mit den Augen und sagt: Ach, der ist wundervoll. Das muss doch was Schönes sein! - Da hast du Recht, Dujardin ist auch etwas Schönes. Und wenn Papi sagt, Dujardin ist ein wundervoller Weinbrand, dann stimmt's! "
Die Einsicht, dass Weinbrand etwas Schönes sei, setzt sich ab den 70er Jahren dann auch in der anfangs so auf Mäßigkeit bedachten DDR durch. In puncto Alkoholprokopfverbrauch erfüllt sich bald das Ulbricht‘sche Diktum vom "Überholen ohne Einzuholen".

Flucht aus dem realsozialistischen Alltag - mit Alkohol

Thomas Kochan: "Spätestens mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker hat dann dieser Konsumsozialismus – gib den Menschen, was sie brauchen – gesiegt. Das andere war die wirtschaftliche Seite, mit Spirituosen ließ sich gut Geld verdienen."
Die DDR-Bürger greifen ordentlich zu. Schnaps ist ein legales Fluchtmittel aus dem zunehmend trister werdenden realsozialistischen Alltag.
Reinhard O. Hahn: "Und in der DDR hat ja jeder gesehen – ich will‘s mal aufzählen: Wir hatten die höchste Selbstmordrate in der Welt, wir hatten den höchsten Alkoholverbrauch in der Welt, das waren 15,6 Liter Reindestillat… Und das Trinkverhalten – man merkte das, dass die ganze Bevölkerung unglücklich war."
Reinhard O. Hahn ist Jahrgang 1947. In Brandenburg aufgewachsen zieht er nach der Scheidung der Eltern in den 50er Jahren erst mit der Mutter in den Westen. Lebt im Rheinland, zieht dann zurück zum Vater, in die DDR. Kurz nach seiner Rückkunft stirbt der Vater.
"Und dann kam ich ins Kinderheim, das hat mir sehr geholfen. Elektromonteur gelernt, Chemiearbeiter gelernt, ich hatte Sehnsucht nach Geborgenheit. Und die Sehnsucht nach Geborgenheit hat mich dann erstmal zur SED geführt – und die SED hatte ja, sag ich mal, große rote Titten. Und wir haben sehr viel dran genuckelt. Und man trinkt sich ein - dann Scheidung, Kind bei mir, Tätigkeit beendet, Parteibuch zerrissen – das war fast tödlich 1976. Und ich habe dann mit 29 Jahren meine ersten großen Kontrollverluste erlitten – ich bin früh aufgestanden, bin in die Kaufhalle gegangen, hab mir ne Flasche Schnaps geholt, die Hände wurden wieder ruhiger. Der Alkohol tut dir gut und das war der größte Selbstbetrug in meinem Leben."
Reinhard O. Hahn wird zum Alkoholiker. Ein Schicksal, das er mit vielen in der DDR teilt. 1987 liegt der Pro-Kopfverbrauch an reinem Alkohol bei 16 Litern, damit steht die DDR, wo sie eigentlich auf wirtschaftlichem und sportlichem Gebiet stehen will, an der Weltspitze.
Der Staat schafft es nicht, die Volkskrankheit Alkoholismus wirksam zu bekämpfen. Zumal Ursachen wie Mangelwirtschaft, zerfallende Städte und wachsende gesellschaftliche Unzufriedenheit nicht offiziell benannt werden dürfen.
Reinhard O. Hahn schreibt 1983, nach erfolgreichem Alkoholentzug in einer Klinik, einen Roman, in dem er seine Erfahrungen drastisch schildert. In der ersten Fassung zu drastisch - da lässt er seinen Protagonisten am Suff sterben. Zuviel Realismus für den Verlag. Doch auch in der bereinigten Fassung mit optimistischem Ende liegt genug Wahrhaftigkeit bei der Behandlung des Themas. Und Wahrhaftigkeit ist, wonach die Leser – oftmals sind sie selbst betroffen – suchen. "Das letzte erste Glas" wird zum Bestseller, millionenfach in den Bibliotheken ausgeborgt.

Die Psychologin sagte: "Was machen Sie denn bloß mit sich?"

Später erfährt Hahn, dass damals selbst die Staatssicherheit einen großen Bestand aufgekauft hat – als Pflichtlektüre für ihre Mitarbeiter. Den Weg aus dem Alkoholismus hat Reinhard O. Hahn mit Hilfe einer kirchlichen Beratungsstelle geschafft:
"Ich bin in die Stadtmission nach Halle gegangen, da gab es eine Frau Schuster, die war die Psychologin, so nannte sie sich, und die strich mir übers Haar – ich war 34 Jahre alt, ja – und die sagte 'Reinhard, was machen Sie denn bloß mit sich?' Das war ein Satz, der hat mir so einen Stoß gegeben, ich kann das gar nicht beschreiben, mir wird heute noch ganz anders, weil die Frau hatte mit einem Satz alles erkannt: Was machen Sie denn bloß mit sich?"
Als 1990 die Sektkorken zur Wiedervereinigung knallen, verzeichnet die nunmehr ebenfalls gesamtdeutsche Alkoholstatistik einen Prokopfverbrauch von gut zwölf Litern. Er sinkt über die nächsten 20 Jahre auf etwa 9,7 Liter pro Kopf ab und pegelt sich bei dieser Marke ein.
Nun kümmert sich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in großen Kampagnen darum, vor allem Jugendliche vor Alkoholmissbrauch zu warnen:
O-Ton Peers BZGA, drei Mädels: "Wir sind von 'Alkohol – kenn dein Limit', kennt ihr das? - Äh, nee, ja, geht so."
Zur Kampagne "Kenn dein Limit" gehören Kino- und Fernsehspots. Und sogenannte Peers, Gleichaltrige, die vor Diskotheken, Kinos – oder wie hier in Hannover in einer Fußgängerzone – Jugendliche ansprechen und sie auf lockere Weise über Alkoholthemen aufklären sollen.
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Neulich in einer deutschen Kleinstadt, Bahnhofsvorplatz. Zwei große Plakatwände nebeneinander: Auf der einen hebt ein bekannter Schlagersänger eine Bierkiste ins Bild, sein Spruch: "Der 20-Zylinder-Super-Kasten". Die zweite Tafel wirbt für das Blaue Kreuz: "Wir helfen Alkoholkranken. Bitte helfen Sie uns." Zwei Plakatbotschaften direkt nebeneinander: Ein besseres Bild für unseren gegenwärtigen Umgang mit dem Alkoholkonsum kann man kaum erfinden. (huc)