Satire auf die Kapitalisierung des Alltags

Von Stefan Keim · 15.06.2012
Das Dortmunder Schauspiel beendet die Saison mit einem Außenprojekt. Mit "Crashtest Nordstadt" erkundet Regisseur Jörg Lukas Matthaei berüchtigte Stadtteile, die als Orte der Kriminalität bekannt sind. Die Zuschauer wandern durch Moscheen und Kirchen, Partykeller und Privatwohnungen.
Jeder ist eine Aktie. Die Besucher werden in Gruppen eingeteilt, in Portfolios, geleitet von jeweils einem Checker. Das sind Leute aus dem Dortmunder Norden, die von Regisseur Jörg Lukas Matthaei und seinem Team (Mattheai & Consorten) angeleitet wurden, um per Handy das Publikum durch Straßen, Hinterhöfe und Häuser zu jagen. Theater als Spiel - Ziel ist es, möglichst viele Aufgaben gut zu bewältigen und damit seinen Marktwert zu steigern. Denn während die Portfolios den "Crashtest Nordstadt" bewältigen, versuchen die Checker, sie möglichst gewinnbringend zu verkaufen.

Eine Satire auf die Kapitalisierung des Alltags ist dieses Projekt im öffentlichen Raum einerseits. Doch das Hauptziel von "Crashtest Nordstadt" ist es, den Blick auf ein Viertel zu verändern, das in den lokalen Medien meist durch Kriminalität, Drogenhandel und Arbeitslosigkeit charakterisiert wird. Die Gruppen, die vier unterschiedliche Parcours absolvieren, schauen hinter die Fassaden, begegnen Menschen, tauchen kurz in deren Alltag ein. In einem Hotelzimmer wartet eine junge Frau und erzählt, sie sei allein erziehende Mutter zweier Kinder und wolle demnächst in Düsseldorf studieren.

Sie verteilt Blätter auf denen zum Beispiel "Großvaters Geschichten", "Mutters warme Socken" oder "Bafög-Antrag" steht. Die Gruppe steht im Kreis, die Frau erzählt, was ihr zu den Begriffen einfällt. Und bittet uns danach, die Blätter danach zu sortieren, was für sie das Wichtigste ist. Fünf Minuten bleiben für die Diskussion, dann kontrolliert sie das Ergebnis. Der Bafög-Antrag ist das Wichtigste, denn ohne Geld läuft nichts.

In einem Hinterhof liegt eine kurdische Moschee im ersten Stock. Im Erdgeschoss sitzt Fatma. Ihre Besucher müssen tanzen, Perücken aufsetzen, bunte Talare anziehen. Im nächsten Zimmer folgt ein kurzes Aufwärmtraining für die Stimme, dann geht es in eine christliche Kirche, die anscheinend direkt unter der Moschee liegt. Dort stellt sich die Gruppe hinter Mikrofone in den Altarraum und übt in Windeseile einen Gospelgesang ein. Und schon folgt der Auftritt.

Wer den "Crashtest" besucht, muss mitmachen, sonst läuft hier nichts. Im Spiel erlebt man mehr als es einem zunächst auffällt. Erst in der Rückschau wird klar, wie vielen Leuten man begegnet ist. Einer liebenswerten Dame in einem urbürgerlichen Wohnzimmer, aus dessen Fenster man mit einem Megaphon Befehle brüllt. Weil die auf der Straße wartende Gruppe auf dem Bahndamm gegenüber eine Blume pflanzen soll. Kinder hinter einem Hochhaus schauen erst irritiert zu, wie erwachsene Menschen Verstecken spielen, und wollen am liebsten mitmachen. Leute auf der Straße - coole Jungs mit Sonnenbrillen, Rentner mit karierten Hemden - helfen sofort, wenn man eine Straßenkarte aus der Tasche zieht. Sie gehören nicht zum Team des Crashtests. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Inszenierung verschwimmt.

Stadtbegehungen in verschiedener Form sind eine eigene Theaterform geworden. Manchmal sind es Profischauspieler, die Gruppen durch die Straßen führen und dabei verschiedene Rollen annehmen - wie zum Beispiel vor einem halben Jahr in Gesine Danckwarts "Goldveedel-Saga" vom Schauspiel Köln. Oder man läuft in anderen Aufführungen einzeln mit einem Audioguide per Kopfhörer durch die Gegend. Die Variante, so ein Projekt mit den Bewohnern des Viertels zu inszenieren, überzeugt am meisten. Denn so entsteht wirklich Kommunikation, vor allem wenn sich alle Beteiligten nach der Performance zum gemeinsamen Essen und Feiern in der Zentrale, einer ehemaligen Kirche, zusammen finden. Man hat etwas gemeinsam erlebt, kommt direkt ins Gespräch, lernt sich noch etwas besser kennen.

Und die Nordstadt ist kein anrüchiges Viertel mehr, wo man in der Dunkelheit nicht mehr hin geht. Sondern es ist der Wohnort vieler Leute, die man schon mal gesehen hat, die einem ein bisschen von ihrem Leben erzählt haben. Man hat hier Stadtleben mitbekommen, Offenheit, Urbanität, auch mal einen derben Spruch. Schließlich sind wir im Ruhrgebiet. Nach dem "Crashtest Nordstadt" hat jeder kapiert, dass auch in Dortmund nichts schwarz und nichts weiß ist. Sondern höchstens schwarzgelb.

Weitere Informationen im Internet
Crashtest Nordstadt
Theater Dortmund
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