Sarkophag für einbalsamierte Träume

Von Jürgen Kalwa · 19.05.2012
Es ist eine der bedeutendsten Sammlungen post-impressionistischer und moderner Malerei: die Barnes Collection. Sie bekommt nun in Philadelphia ein neues Haus. Allerdings ist dieser Umzug umstritten. Einige Kritiker sprechen von Kunstraub.
Ein paar Tage vor der offiziellen Eröffnung wurde ausgewählten Gästen in dem neuen Haus in Philadelphia etwas ganz Besonderes zuteil: eine persönliche Führung des Museumsdirektors durch eine der bedeutendsten und ungewöhnlichsten Kunstsammlungen der Welt.

"This is the art tour. The 1:45 art tour.”"

Derek Gillman: ""The 1:45 art tour. Okay. Then we will all go to the galleries.”"

Derek Gillman, Brite, studierter Psychologe, China-Experte, Rechtsgelehrter. Er hat vor sechs Jahren ein delikates Projekt übernommen: Den Neubau eines modernen Gebäudes für die Barnes Collection mit rund 800 Gemälden, darunter 181 von Auguste Renoir. 69 von Paul Cézanne, 60 von Henri Matisse und 46 von Pablo Picasso. Dazu eine Reihe von van Goghs, Monets, Manets, Modilglianis und alte Meister wie Frans Hals. Nicht zu vergessen: afrikanische Skulpturen und alte Möbelstücke aus Pennsylvania. Eine Sammlung, deren kultureller Wert unschätzbar ist und deren materieller mit Sicherheit weit über 20 Milliarden Euro liegt:

""When we stand at the main gallery this is the point where we can talk about the general lighting of the building. And then we move through. So, these windows behind us were the only ones in Merion that had clear glass.”"

Schon im ersten Raum sieht man, was an der hier zusammengetragenen Kunst so anders und ungewöhnlich ist. Alle Wände sind übervoll mit Bildern, die nach einem Schema aufgehängt wurden, das ein eigenwilliger Amerikaner vor Jahrzehnten festgelegt hat.

Alfred C. Barnes, reicher und erfindungsreicher Pharma-Fabrikant, selbstbewusster Sammler mit kunsterzieherischer Vision, Mäzen großer französischer Post-Impressionisten.

Alfred Barnes: ""In the foundation’s courses art is taken out of its usual detached esoteric world.”"

Seine Ambition, so sagte Barnes 1942, bestehe darin, die Kunst aus ihrem abgekoppelten esoterischen Kontext zu befreien und sie neu einzuordnen. Zu diesem Zweck ließ er ein eigenes kleines Museum am Stadtrand von Philadelphia bauen und gewährte vor allem Schulkindern Zutritt. Sie sollten die Barnes-Methode lernen, in der es um Formen, Farben, Licht und den vor hundert Jahren ziemlich revolutionären Gedanken geht, dass Kunst keine Abbildung der Realität ist, sondern eine Verzerrung derselben.

Barnes schrieb darüber Aufsätze und Bücher und zeigte arrivierten Vertretern des Kunstbetriebs seiner Zeit, die solche Überlegungen als exzentrisch abtaten, die kalte Schulter. Der Ort hatte den Ruch eines Mysteriums, zumal es von einem großen Teil der Gemälde nicht mal Fotos gab. Oder wenn, dann nur in schwarz-weiß.

Die New Yorker Journalistin Maura Egan wuchs in der Nähe auf und war als Schülerin häufig mit ihrer Klasse im Haus von Alfred Barnes, gebaut in den zwanziger Jahren:

""Sie ließen einen sitzen und man konnte alles in sich aufnehmen. Es war großartig, wie da die Skulptur eines obskuren afrikanischen Stammes gegen eine herausragende Arbeit von Picasso gestellt wurde. Später haben mich Leute gefragt, wenn sie hörten, dass ich aus Philadelphia komme, ob ich jemals in der Barnes Foundation gewesen bin. Als sei dies ein sagenumwobener geheimnisvoller Ort. So was wie Shangri-La."

Es ist nicht ganz leicht zu erklären, weshalb die Kunst aus ihrem angestammten Platz, einem Labor der Sinne, entfernt und in einen modernen Bau verpflanzt wurde, der an diesem Wochenende seine Pforten für Besucher. Denn der 1951 bei einem Autounfall tödlich verunglückte Barnes hatte so etwas in einem sehr präzisen Nachlass ausdrücklich nicht gestattet.

Anhänger des Status Quo Ante nennen den Ortswechsel denn auch einen Kunstraub. Wie in jenem Dokumentarfilm, der vor zwei Jahren herauskam – Titel "The Art of the Steal”. Der Vorwurf: Politiker in Philadelphia wollten dringend eine weitere Touristenattraktion in die Innenstadt lotsen und waren sich nicht zu schade, dies mit Hilfe von Gerichten auch durchzudrücken.

Die andere Seite der Geschichte sieht so aus: Barnes hatte in seinem Nachlass elf Millionen Dollar bereitgestellt, um den Unterhalt der Sammlung zu ermöglichen. Doch 40 Jahre nach seinem Tod war das Geld verbraucht. Das Dach leckte. Der Stiftungsrat sah sich genötigt, womöglich Teile der Sammlung zu verkaufen, um den Bestand der Einrichtung zu sichern.

Das sorgte für öffentlichen Aufruhr. Und so wurde in den neunziger Jahren zum ersten Mal ein Gericht bemüht. Die Sammlung ging auf Reisen und spielte Geld ein. Zur gleichen Zeit renovierte man das Gebäude.

Kaum zehn Jahre später wurde es erneut finanziell eng. Obendrein beschwerten sich Anlieger lautstark über den zunehmenden Besucherverkehr. Diesmal fanden sich wohlhabende gemeinnützige Stiftungen, die mehr als 200 Millionen Dollar für einen Neubau im Zentrum aufzubringen versprachen. Und ein Gericht, das die Maßnahme absegnete. Einzige Bedingung: Im neuen Gebäude muss die Kunst so präsentiert werden wie im alten.

Die New Yorker Architektin Bilie Tsien, die gemeinsam mit ihrem Mann Tod Williams den aus Meleke – Jerusalem Stein – aufgeschichteten und mit viel Glas ausgestatteten Kubus entworfen hat:

"Die Größe und Höhe der Räume und wie die Bilder gehängt sind, das wurde exakt übernommen. Wir haben eine Zeit lang darüber nachgedacht, die Räume größer zu machen, damit sich die Besucher wohlfühlen. Einige sind sehr klein und vollgepackt mit Sachen. Aber was machst du dann? Leere Ecken? Wenn du die Bilder auseinanderziehst, funktioniert es nicht mehr."

Dem Architektenpaar wird nun vorgeworfen, eine Art von Mausoleum entworfen zu haben. Einen riesigen Sarkophag für die einbalsamierten Träume eines vor langer Zeit verstorbenen Mannes. Doch eine solche Kritik verschleiert einen wichtigen Aspekt des Neubaus: Zum ersten Mal, seit Alfred Barnes die Gemälde erwarb und ausstellte, kann man sie im hellstem Tageslicht sehen.

Die Fenster im Altbau waren milchig und ließen die Farben in ein dumpfes Blah-Blah absacken. Jetzt strahlen die Bilder und zeigen, dass sie zu den bemerkenswertesten und besten Arbeiten des frühen 20. Jahrhunderts gehören. Und sie kämpfen noch stärker als bisher um die Aufmerksamkeit des Betrachters: in einem Museum, in dem respektable Arbeiten wie van Goghs Postbote Roulin verdruckst in einer Ecke hängen – in einem Tableau sechs Bilder breit und vier Bilder hoch. Derek Gillman ist mit dem Resultat zufrieden und lässt es seine Gäste beim Rundgang wissen. Die Verpflanzung ist vollbracht. Der Geist von Barnes lebt weiter:

""Das ist die reine Freude für mich, diese Bilder so klar zu sehen. Alles obsessiv symmetrisch. Ich weiß von keiner anderen Galerie, in der es so symmetrisch zugeht.”"
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