Sammelband: "Im Kampf gegen Nazideutschland"

Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil

Von Robert Brammer · 27.02.2016
Sie arbeiteten während des Zweiten Weltkriegs für den US-Geheimdienst: Sozialwissenschaftler der Frankfurter Schule im Exil. Die Berichte von Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer wirken auch heute "noch ungemein gegenwärtig", sagt unser Kritiker.
Ein Buch als eine Zeitkapsel - Texte, die das Deutschland der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts lebendig werden lassen: Die nationalsozialistische Machtergreifung, der Terror gegen Andersdenkende und die Schrecken des zweiten Weltkrieges, gesehen durch die Augen deutscher Exilanten und aufgeschrieben für den amerikanischen Geheimdienst.
Einer der Protagonisten: Der 1934 aus Berlin nach New York emigrierte Philosoph Herbert Marcuse, angesehenes Mitglied der Frankfurter Schule und später aktiv in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. 1964 erschien sein wohl bekanntestes Werk: 'Der eindimensionale Mensch', einer der wichtigsten soziologischen Texte der 60er Jahre. Ein Buch über die Paralyse der Kritik und über eine Gesellschaft ohne Opposition. Marcuse folgte damals nicht dem gängigen Ost-West Schema, sondern entwickelte eine Kritik des Totalitarismus. Nationalsozialismus, Sowjetsystem und die amerikanische Industriegesellschaft, sie alle erschienen ihm damals als Varianten gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse.
Es gibt eine Gewalt der Befreiung, und es gibt eine Gewalt der Unterdrückung, es gibt eine Gewalt der Verteidigung des Lebens und es gibt eine Gewalt der Aggression. (Originalton Marcuse)
Ein großer Teil seiner Empirie findet sich schon in den Schriften für den amerikanischen Geheimdienst. Marcuse, der Marxist, arbeitete seit 1943 hauptsächlich für die politische Abteilung des "Office of Strategic Services", einer Unterabteilung des amerikanischen Geheimdienstes.
Während Horkheimer und Adorno in Kalifornien an der "Dialektik der Aufklärung" schrieben, trat Herbert Marcuse gemeinsam mit seinem Freund Franz Neumann in den US- Geheimdienst ein, der damals noch in Washington in Baracken residierte. Marcuse und Neumann, der nach dem Krieg zu einem der Begründer der Politikwissenschaft in Deutschland werden sollte, sowie der ebenfalls zur Frankfurter Schule gehörende renommierte Staatsrechtler Otto Kirchheimer wollten begreifen, was in Europa geschah und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien. Statt Theoriebildung setzten sie vor allem auf Politikberatung, allerdings unter Aufsicht und unter Auflagen ihrer Auftraggeber.
Uncle Sam zahlte gern für deutsche Links-Intellektuelle
Das demokratische Amerika finanzierte linke deutsche Sozialwissenschaftler: Mit deren Analysen der nationalsozialistischen Diktatur hofften die USA, den Krieg schneller zu gewinnen und danach das besiegte Land grundlegend umbauen zu können.
Franz Neumann, der bereits 1942 "Behemoth", seine wegweisende Analyse der NS-Diktatur veröffentlicht hatte, wird heute als der theoretische Kopf der Gruppe angesehen. Im Zentrum ihrer ersten Berichte stand die "Feindanalyse". So interessierte sich Marcuse für die psychologischen Dispositionen der deutschen Bevölkerung. In seinem Text: "Moral in Deutschland" vom 16. September 1943 notierte er:
Sammelband: "Im Kampf gegen Nazideutschland - Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943 – 1949"
Sammelband: "Im Kampf gegen Nazideutschland - Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943 – 1949"© Campus Verlag
Es besteht mittlerweile kein Zweifel mehr, dass die Massen in ihrer Mehrheit keine Nazis sind. Aber das bedeutet nicht, dass sie Nazigegner wären. (…) Trotz ihrer unzulänglichen Kontrollen hat die Naziführung vermutlich von den Bevölkerungsmassen wenig zu befürchten. In allen Kriegsgefangenen-Berichten herrscht in diesem Punkt allgemeine Übereinstimmung, dass die Menschen ‚Frieden, Brot und Sicherheit‘ wollen und keine Politik. (…) Müdigkeit, Misstrauen und Domestizierung arbeiten mithin der Naziführung direkt in die Hände.
Das propagandistische Trommelfeuer der Nazis, so Marcuse, brachte die deutsche Bevölkerung zwar dazu, jeder normativen Rechtfertigung von Politik zu misstrauen. Doch die drohende militärische Niederlage und die damit verbundenen Ängste, so seine Analyse, erzeugten ein wirksames Bindemittel zwischen den Massen und ihrer Führung.
Als das Kriegsende absehbar wurde, interessierten sich Neumann, Marcuse und Kirchheimer verstärkt für die Nachkriegssituation, insbesondere für die strafrechtliche Verfolgung der für den nationalsozialistischen Terror Verantwortlichen. Sie entwarfen auch mögliche Blaupausen für einen ökonomischen und politischen Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. Als Vorbedingung für eine Re-Demokratisierung Deutschlands forderten sie immer wieder eine Entmachtung der monopolistischen Eliten, eine Neugründung der Gewerkschaften, aber auch eine Neuordnung der Verwaltung.
Eine Politik der Tabula-rasa hielten sie jedoch sowohl aus rechtlichen wie auch aus administrativen Gründen für undurchführbar. Otto Kirchheimer empfahl daher Ende März 1944:
Ob nun verfassungsgemäß oder nicht, hat das NS-Regime Jahr für Jahr eine endlose Flut von Gesetzen, Verordnungen und Verfügungen erlassen, die das Leben und die Institutionen in Deutschland in einem solchen Maße beeinflusst und verändert haben, dass die pauschale, sich psychologisch durchaus auszahlende Aufhebung all dieser Rechtsvorschriften zu chaotischen Zuständen führen würde.
Die Texte - damals alle als "geheim" klassifiziert - wirken auch heute, 75 Jahre nach dem sie verfasst wurden, noch ungemein gegenwärtig. Das Buch dringt wie eine Sonde in den nationalsozialistischen Alltag ein, und man fragt sich, woher die Autoren all ihre Informationen hatten und ist erstaunt, wie hellsichtig ihre Analysen damals waren.
Die Texte bieten eine enorme Materialfülle
Das Buch versammelt auf 790 Seiten unendlich viel Material für an dieser Zeit interessierte Leser, aber auch für Historiker, die hier eine Fülle an Details finden für eine strukturalistisch vorgehende Sozialgeschichte: Informationen über Propagandatechniken, über die politische Opposition oder die Auswirkungen der Luftangriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung. Die Autoren zeigen, wie Hitler immer wieder versucht hat, festgefahrene Strukturen zu vermeiden, die sonst seine eigene Stellung und seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt und seiner Alleinherrschaft hätten gefährlich werden können. Ausführlich analysieren viele Einzelbeiträge den nationalsozialistischen Vernichtungswillen vor allem als einen Schutz, um die gesamte deutsche Bevölkerung haftbar zu machen - und so jeden Separatfrieden durch das Militär schon im Ansatz zu unterbinden. Franz Neumann notiert am 28. Mai 1943:
Der Zwang, so ungeheure Verbrechen zu begehen, wie die physische Vernichtung der Juden im Osten, macht die deutsche Wehrmacht, die Beamtenschaft und die breiten Massen zu Mittätern und an diesen Verbrechen zu Mitschuldigen, weshalb es ihnen unmöglich ist, das Naziboot zu verlassen. Ich glaube, man kann davon ausgehen, dass mit der neuen Welle des Antisemitismus auch die Absicht verfolgt wird, separate Friedensverhandlungen der Nichtnazis unter den Angehörigen der herrschenden Klasse zu vereiteln. Die Nazis möchten, dass das Verbrechen, das gerade begangen wird, jeden einzelnen Deutschen befleckt.

Im Kampf gegen Nazideutschland - Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943 – 1949
Von Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Raffaele Laudani (Hg.)
Aus dem Englischen von Christine Pries
Campus Verlag, Frankfurt 2016
791 Seiten, 39,90 Euro

Mehr zum Thema