Samanta Schweblin: "Das Gift"

Der Reiz der Verstörung

Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin
Die argentinische Schriftstellerin Samanta Schweblin © Imago / Leemage
Von Tobias Wenzel · 03.08.2015
Die Argentinierin Samanta Schweblin ist seit Jahren für ihre äußerst präzisen Erzählungen bekannt. Jetzt legt die preisgekrönte Schriftstellerin einen bestechenden und irritierenden Roman vor, der nur aus dem Dialog seiner beiden Figuren besteht. Tobias Wenzel hat sie getroffen, um über "Das Gift" zu sprechen.
"Diese kleinen Schilder, mit denen die Bäume hier nummeriert sind. Alle sind nummeriert!"
Die deutsche Ordnung erstaunt und amüsiert Samanta Schweblin. Die 37-jährige argentinische Autorin und Wahlberlinerin schlendert durch den Görlitzer Park und macht viele kleine Entdeckungen, während anderen hier nur die penetranten Drogendealer auffallen. An diesem heißen Sommertag kühlen einige Parkbesucher ihre Füße in einem Bach ab.
Amanda ist auf David angewiesen
In Samanta Schweblins bestechendem Roman "Das Gift" trinkt ein Pferd irgendwo auf dem Land, vielleicht in der argentinischen Pampa, vergiftetes Wasser. Das Pferd stirbt. Und der kleine Junge David, der auch mit dem Wasser in Kontakt gekommen ist, wird noch gerade durch eine Heilerin gerettet. Aber danach ist er nicht mehr er selbst: Er begräbt zahlreiche Tiere. Die Mutter Carla hat Angst vor ihrem eigenen Sohn. Jahre später begegnet Amanda, eine mit Carla befreundete Großstädterin, die sich auf dem Land mit ihrem Mann und ihrer Tochter erholen will, wieder auf diesen David. Amanda weiß nicht, wo sie ist, sie glaubt, sterben zu müssen. Sie ist allein mit David, auf den sie angewiesen ist und den sie zugleich fürchtet. Gemeinsam mit ihm versucht sie zu rekonstruieren, was geschehen ist:
Amanda: "Stimmt das, David? Hast du diese Enten getötet? Und gerade sagt deine Mutter, du hättest sie alle beerdigt und dabei geweint. (... ) Stimmt das?"
David: "Ich habe sie beerdigt, beerdigen ist nicht töten."
Samanta Schweblin: "Am Anfang des Romans 'Das Gift' war ein Bild. Das Bild von Amanda, die in einem Albtraum die Treppe runtergeht und glaubt, dass ihre Tochter nicht mehr ihre Tochter ist. Das hat mich fasziniert: Was passiert, wenn ein Kind, das gerade ein paar Worte sprechen kann, einem Elternteil sagt: 'Ich bin nicht dein Kind.' Mit dieser schrecklichen Vorstellung habe ich dann gespielt."
Verstörender Roman in Dialogform
Das Ergebnis ist ein verstörender Roman, der ausschließlich aus dem Dialog zwischen Amanda und David besteht und in dem kein Wort zu viel ist. Genauso wie in Samanta Schweblins international gefeierten Erzählungen. Sie ist die wohl beste lateinamerikanische Autorin ihrer Generation. Schweblin, die in Buenos Aires Filmwissenschaften studiert hat, ist eine Meisterin darin, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen, Bilder des Horrors. Voraussetzung dafür ist die unbändige Fantasie der Autorin, die sich auch während des Spaziergangs durch ihren Berliner Stadtteil Kreuzberg zeigt:
"Da vorne ist ein Hinterhof. Und da gibt es einen Zirkus. Und mein Küchenfenster geht zu diesem Hof raus. Das ist sehr komisch. Manchmal trage ich das schmutzige Geschirr vom Tisch zur Spüle, so, dass es mir fast aus der Hand fällt. Und dann höre ich das Publikum vor 'hooooooooo!' rufen. Oder mir gelingt irgendetwas. Und die Zirkus-Besucher applaudieren."
Was wäre, wenn die Gleichzeitigkeit gewisser Geschehnisse kein Zufall wäre? Aus dieser Frage speist sich hier und da auch der Horror in Samanta Schweblins Roman "Das Gift". Dort, wo David ist, scheint es nur noch den Tod zu geben. Rational kann man das Gift auf dem Land als Pflanzenschutzmittel deuten. Und David sitzt vielleicht nur am Sterbebett Amandas und will das Beste für sie. Aber trotzdem wähnt man das Böse in jedem seiner Sätze:
Amanda: "David?"
David: "Ja?"
Amanda: "Ich bin so müde. Was ist das Wichtige, David? Du musst es mir sagen, weil mein Leidensweg zu Ende geht, nicht wahr? Du musst es mir sagen, und danach soll wieder Stille herrschen."
David: "Ich werde dich jetzt anschieben. Ich schiebe die Enten an, schiebe den Hund von Señor Geser an, die Pferde."
Spiel mit der Ungewissheit
Samanta Schweblin verstört uns Leser, auf grandiose Weise. Sie fühle sich überhaupt vom Verstörenden, vom Seltsamen angezogen, erzählt sie beim Spaziergang. Vom Moment, in dem man nicht weiß, woran man ist:
"Das ist, wie wenn wir beim Fernsehen rumzappen. Da versteht man auch nicht gleich, worum es geht. Was einem als seltsam erscheint, hängt natürlich auch von einem selbst ab. Die erste Frau von Julio Cortázar hat einmal gesagt: 'Wenn ein violetter Elefant bei uns zu Hause klingelte, würde Julio Cortázar nicht überrascht sein, weil da ein violetter Elefant zu Besuch gekommen ist. Er würde sagen: Oh, für so einen großen Elefanten habe ich gar nicht genügend Coca Cola im Kühlschrank!'"

Samanta Schweblin: Das Gift
Roman
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
126 Seiten, 16,95 Euro.

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