Sam Hawken: "Kojoten"

Tote, die meist namenlos bleiben

Der Grenzzaun an der Grenze von Sonora und Arizona bei Sonoyta: Er soll vor allem verhindern, dass Fahrzeuge in die USA gelangen.
Zaun an der Grenze von Arizona zu Mexiko: Er soll vor allem verhindern, dass Fahrzeuge in die USA gelangen © picture-alliance / dpa
Von Gerrit Bartels · 06.01.2016
Der neue Roman von Sam Hawken ist eigentlich kein Krimi, sondern betrachtet das Thema Migration in der US-Grenzregion zu Mexiko von allen Seiten. Hawkens Stil: Ein bedächtiges Erzähltempo mit viel psychologischem Realismus.
Zu Beginn von Sam Hawkens Roman "Kojoten" hat man den Eindruck, dass die Hitze, die in der mexikanisch-amerikanischen Grenzregion in der Nähe der US-Stadt Presidio herrscht, sich auch auf die Prosa Hawkens niedergeschlagen hat. Geradezu bedächtig beginnt dieser Kriminalroman mit dem Ritt der Polizistin Ana durch die unwirtliche, vor allem aus Wüste und Felsen bestehende Landschaft, auf dem sie den "Vergewaltigungsbaum" (an dessen Äste Frauenunterhosen hängen) entdeckt und auch einen Toten.
Und genauso bedächtig geht es weiter mit der Schilderung der Zusammenarbeit der dem Gouverneur von Texas unterstellten Texas Rangers (zu denen Ana gehört, sie stammt nicht aus der Gegend), der örtlichen Polizei und der örtlichen Grenztruppen, die alle versuchen, die so genannten Grenzquerer von der illegalen Einwanderung abzuhalten.
Der Tote, der erschossen wurde, dürfte namenlos bleiben, davon gehen alle aus. Ob er ein Flüchtling ist, ein "Kojote", also ein Schleuser, oder ein Drogenschmuggler, auch das spielt kaum eine Rolle. Es wird nun einmal gestorben im Grenzland. Sam Hawken geht es in diesem ersten Kapitel seines Romans weniger um die Aufklärung des Falles als um das Porträt seiner Figur Ana und um die Region und ihre Atmosphäre.
Drei Porträts: "Kojoten" ist eine Art Triptychon
Von wegen Kriminalroman also! Ähnlich verfuhr Hawken schon bei seinem Debüt "Die toten Frauen von Juárez", das hierzulande 2012 erschien. Dieser Roman ist in der ersten Hälfte gleichfalls ein Figuren- und Stadtporträt und wird erst in seinem zweiten Teil zu einem Thriller, und zwar vor dem ganz realen Hintergrund der seit den 90er Jahren unaufgeklärten Frauenmordserie in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez.
Hawken, der 1970 in Texas geboren wurde und in Baltimore lebt, ist dieses Mal noch konsequenter. "Kojoten" ist eine Art Triptychon: Der Roman porträtiert drei Figuren aus der Grenzregion. Neben Ana sind das noch der "Hundemann" Luis, der mit einem Dutzend ihm zugelaufenen Hunden auf der mexikanischen Seite wohnt, vor den Toren von Ojinaga, mit ihren knapp 20.000 Einwohnern gewissermaßen die Zwillingsstadt von Presidio (ähnlich wie die 240 Meilen nördlich gelegenen El Paso und Juárez, wie die östlich davon gelegenen Städte Laredo und Nuevo Laredo).
Luis war früher Schleuser und betreibt jetzt einen Laden mit Flüchtlings-oder Grenzquerer-Bedarf, wird aber gegen seinen Willen wieder ins Schleusergeschäft zurückgezwungen.
Der Weg von Marisol beginnt in einem Dorf in El Salvador
Und als Dritter ist da noch Marisol, die aus einem Provinzdorf in El Salvador kommt und in die USA will. Ihre Beweggründe und dann ihren Weg von der Hauptstadt San Salvador durch Guatemala und Mexiko beschreibt Hawken detailliert und eindringlich. Da wird aus einem Leben, einem Individuum, auf einmal eine Illegale, ein Mensch, den es nur noch als Flüchtling gibt, der auf seiner Tour am liebsten unsichtbar bleiben würde, und tatsächlich ertappt man sich bei der Lektüre, Tangenten nach Europa und zur aktuellen Flüchtlingsproblematik zu legen.
Hawken zeigt in seinem Roman die Problematik der Migration, der illegalen zumal, von mehreren Seiten, insbesondere mehreren menschlichen Seiten. Nicht von ungefähr hat er "Kojoten" ganz schlicht und allgemein "den Migranten" gewidmet. Dass dieser Roman in den falschen Fächern der Buchhandlungen liegen wird, ist offensichtlich, zumindest bei erwartungsfrohen Krimi-Lesern dürfte er für Enttäuschung sorgen: zu wenig Genre, zu viel psychologischer Realismus und Literatur.
Das bedächtige Erzähltempo hat da seine guten Gründe. Von hinten nach vorn allerdings lassen sich die drei Teile von "Kojoten" nicht lesen. Am genauso glücklichen wie traurigen Ende bekommt der Tote neben dem Vergewaltigungsbaum einen Namen, ein Gesicht und einen Charakter – was es aber nicht mehr gebraucht hätte. Auch ohne diesen dramaturgischen Zirkelschluss ist "Kojoten" ein starker Roman.

Sam Hawken: Kojoten
Polar Verlag, Hamburg 2015
303 Seiten, 14,95 Euro