Salman Rushdie über Terror und Literatur

"Zum Teufel mit euch Islamisten!"

Der Schriftsteller Salman Rushdie zu Gast im Studio von Deutschlandradio Kultur; Aufnahme vom 21.11. 2015
Der Schriftsteller Salman Rushdie zu Gast im Studio von Deutschlandradio Kultur © Deutschlandradio / Margarete Hucht
Moderation: Jörg Magenau · 23.11.2015
Fanatische Menschen könnten keine Lebensfreude ertragen, sagt der britisch-indische Bestseller-Autor Salman Rushdie. Deshalb sei Humor ein gutes Rezept gegen den Terror. Im Interview mit Deutschlandradio Kultur empfiehlt er, die Islamisten auszulachen und das Leben weiter wie bisher zu leben.
Der indisch-britische Bestseller-Autor Salman Rushdie wurde Ende der 80er Jahre von der religiösen Führung des Iran mit einer Fatwa belegt. Seither hat er permanent seinen Wohnort gewechselt.
Dennoch hat Rushdie seinen Humor nie verloren. Das belegt sein neues Buch "Zwei Jahre, acht Monate und 28 Nächte". Der Roman erzählt die Geschichte des Philosophen Ibn Rusd, der sich in eine Art Dschinn-Prinzessin verliebt. Ihre vielen Nachkommen verfügen alle über besondere Gaben, etwa die Gabe, Wunder zu bewirken. Damit können sie den bösen Geistern die Stirn bieten. Salman Rushdie sagte im Deutschlandradio Kultur:
"Obwohl sich das jetzt sehr düster anhört, muss ich eigentlich schon sagen, dass das ein sehr verspieltes Buch ist. Viele sagen, es sei eigentlich mein witzigstes Buch, dass ich je geschrieben habe. Ich denke, mit Komödie kann man in diesen Zeiten ganz gut durchkommen."
Warum er für seinen Roman die Form des Märchenhaften gewählt habe, erklärt Rushdie so:
"Ich glaube, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, mit diesen außerordentlichen Dingen umzugehen. Letztendlich ist das ja die älteste Form der Literatur. So hat Literatur einmal angefangen: mit Fabeln, mit Märchen. Und ich versuche einfach nur, eine zeitgenössische Version dieser Form von Literatur wieder neu aufleben zu lassen."
Die Literatur biete so wunderbare Möglichkeiten, mit Metaphern das Reale abzubilden. Ein Meister darin sei Günter Grass gewesen, den er zu seinen Vorbildern zähle, sagte Rushdie.
Beeindruckt von den Franzosen
Die Frage, was das Böse sei, sei derzeit leider sehr einfach zu beantworten – angesichts der globalen Bedrohung durch Islamisten. Er sei nach dem 11. September 2001 sehr beeindruckt von den New Yorkern gewesen. Und sei es jetzt noch mehr von den Franzosen, speziell den Parisern. Sie hätten nach den Attentaten besonnen und mutig reagiert:
"Sie haben noch mehr auf diese Herausforderung reagiert und wollen sich ihr Pariser Leben nicht kaputt machen lassen und Paris wieder als ihre Stadt erleben. Und das erfordert sehr viel Mut."
Woher, glaubt Rushdie, rührt der große Hass der Islamisten?
"Eines unter den Dingen, die sie so hassen, ist einfach, dass man Spaß hat, dass man sich unterhält, dass man Freude hat vor allen Dingen an kulturellen Dingen. Was haben denn die Taliban als Erstes getan, als sie an die Macht kamen? Das Erste, was sie taten, war, die Musik zu verbieten, Kinos zu schließen, Theater zu schließen. Der fanatische Geist sozusagen kann es nicht ertragen, dass jemand Freude, Lebensfreude, Lust und Spaß hat."
Doch niemand dürfe sich davon einschüchtern lassen. Für den Durchschnittsbürger komme eigentlich nur eine Haltung gegenüber den IS-Terroristen in Frage: "Zum Teufel mit euch!"

Das Interview im Wortlaut:
Jörg Magenau: Es ist ein glücklicher Zufall, dass ausgerechnet in diesen doch ziemlich aufgeregten Tagen Salman Rushdie in Deutschland unterwegs ist, und das mit einem neuen Roman, in dem es um eine völlig aus den Fugen geratene Welt geht, eine Welt voller Kriege, Terror und Schrecken. Das Buch hat den Titel "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte", was zusammen nicht ganz zufällig Tausendundeine Nacht ergibt. Salman Rushdie hat bereits mehrere Auftritte in Deutschland absolviert, beim Münchener Literaturfest ist er gewesen und am Samstag auch in Berlin. Doch zuvor hat der Deutschlandradio Kultur und der "Lesart" einen Besuch abgestattet. Das Gespräch haben wir am Samstagnachmittag aufgezeichnet. Herr Rushdie, schön, dass Sie da sind – herzlich willkommen!
Salman Rushdie: Obwohl sich das jetzt sehr düster anhört, muss ich eigentlich schon sagen, dass das ein sehr verspieltes Buch ist. Viele sagen, es sei eigentlich mein witzigstes Buch, dass ich je geschrieben habe. Ich denke, mit Komödie kann man in diesen Zeiten ganz gut durchkommen.
Magenau: Zu dem Buch kommen wir gleich. Ich möchte Sie aber zuerst fragen, wie Sie die Terroranschläge in Paris erlebt haben und was das für Sie selbst bedeutet. Sie leben ja schon so lange unter Sicherheitsvorkehrungen. Hat sich für Sie die Situation jetzt verschärft?
Rushdie: Ich habe ja nicht die gesamten 16 Jahre unter diesen extremen Sicherheitsmaßnahmen gelebt, aber doch sehr, sehr lange. Und ich war bei den Angriffen von Nine-eleven, also am 11. September 2001, da lebte ich damals in New York, und ich habe gesehen, wie zuerst die New Yorker doch sehr traumatisiert, sehr verängstigt waren, und wie jeder, der mit dunkler Haut Ihnen gegenüber stand, von ihnen sehr misstrauisch beäugt wurde, ob er nun Araber war oder nicht.
Aber dann hat das nicht sehr lange angedauert, und nach wenigen Wochen hörte diese Angst auf und die New Yorker lebten ihr normales Leben weiter. Das fand ich dann sehr beeindruckend, und ich denke, die Pariser haben vielleicht noch besonnener reagiert, sie haben noch mehr auf diese Herausforderung reagiert und wollen sich ihr Pariser Leben nicht kaputt machen lassen und Paris wieder als ihre Stadt erleben. Und das erfordert sehr viel Mut.
Magenau: Was ist denn Ihrer Meinung nach das Ziel der Terroristen? Warum dieser Hass auf die westliche Lebensweise?
"Der fanatische Geist kann Freude nicht ertragen"
Rushdie: Da fragen Sie jetzt eigentlich die falsche Person. Das müssten Sie die Urheber letztendlich fragen. Aber ich glaube, was sie am meisten hassen, oder eines unter den Dingen, die sie so hassen, ist einfach, dass man Spaß hat, dass man sich unterhält, dass man Freude hat vor allen Dingen an kulturellen Dingen. Was haben denn die Taliban als Erstes getan, als sie an die Macht kamen? Das Erste, was sie taten, war, die Musik zu verbieten, Kinos zu schließen, Theater zu schließen. Der fanatische Geist sozusagen kann es nicht ertragen, dass jemand Freude, Lebensfreude, Lust und Spaß hat.
Das ist es, was mir sehr auffällt. Das heißt, in dem Moment, wo man einfach seinen Spaß auslebt, wird das schon zu einem Akt der Rebellion gegen die Puritaner, und das ist das, wie man auf Puritanismus reagieren muss. Man muss einfach seinen eigenen Lebensstil weiter behalten.
Magenau: Ist die beste Art, sich zu verteidigen, nicht auch, die Terroristen nicht ernst zu nehmen oder sie zu ignorieren, ihnen nicht so viel Raum zu geben und Gelassenheit zu zeigen?
Rushdie: Was normale Menschen tun können, ist einfach, eine gewisse Ruhe zu bewahren, aber auch, einfach die Terroristen auszulachen und ihr Leben weiter zu leben. Staaten und Länder müssen da schon ein bisschen anders drauf reagieren und müssen sich auch dieser Bedrohung stellen und dieser Bedrohung auch auf konfrontative Art und Weise begegnen, aber das können wir normalen Menschen ja nicht machen. Für uns ist es einfach wichtiger, dass wir sagen, zum Teufel mit euch.
Magenau: Herr Rushdie, glauben Sie an Wunder?
"Ich glaube an die alltäglichen kleinen Wunder"
Rushdie: Nein, nicht wirklich. Ich glaube an die alltäglichen kleinen Wunder, an die wir, glaube ich, alle glauben, sich zu verlieben, Kinder zu haben. Das fühlt sich dann schon an wie ein Wunder. Und vielleicht auch, Kunst zu erfahren, also eine Beethoven-Sinphonie, das hat etwas Wunderbares.
Magenau: In Ihrem Roman kommen allerdings sehr viele erstaunliche Wunder vor, Leute, die auf der Luft gehen, Kinder, die Korruption anzeigen, indem man ihnen begegnet und die Leute einen Hautausschlag kriegen. Warum dann diese Wunder im Roman?
Rushdie: Das ist aber genau das, was man mit Fiktion ausdrücken kann. Man lässt Dinge geschehen, die nicht wahr sind, und versucht dadurch wiederum, auf den Buchseiten letztendlich auch über Dinge zu reflektieren, die wahr sind. Und ich glaube, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, mit diesen außerordentlichen Dingen umzugehen. Letztendlich ist das ja die älteste Form der Literatur. So hat Literatur einmal angefangen, mit Fabeln, mit Märchen, und ich versuche einfach nur, eine zeitgenössische Version dieser Form von Literatur wieder neu aufleben zu lassen.
Aber ganz egal, ob wir nun in die westliche oder in die östliche Märchen- und Mythenwelt eintauchen, ob es jetzt 1001 Nacht ist oder die Märchen der Brüder Grimm mit all diesen fantastischen Elementen, Monstern, Bösewichtern und so weiter, das Spannende daran ist, zu schauen, dass der Mensch sehr wahrhaftig dargestellt wird, wenn er mit außergewöhnlichen Dingen konfrontiert ist. Und das ist das, warum uns diese Geschichten immer noch so faszinieren, das ist, was die Kraft dieser Geschichten ausübt. Wie verhält sich ein Mensch in einer außergewöhnlichen Situation, beispielsweise, wenn der Wolf die Großmutter frisst oder wenn eine Hexe Hänsel und Gretel in den Ofen schieben will? Das sind reale Ängste – wie gehen Menschen damit um? Darum geht es, das macht letztendlich die Faszination dieser Geschichten aus.
Magenau: Sie zeigen ja aber sehr genau trotzdem ein Abbild unserer Gegenwart, wo man fast erschrecken kann, wie der Islamische Staat zum Beispiel fast vorkommt in diesem Roman. Zugleich ist es aber ein Kampf der Geister des Guten gegen das Böse. Und da fragte ich mich, ob das denn tatsächlich reicht, wenn man unsere Gegenwart sozusagen als Kampf des Guten gegen das Böse abbildet, oder ob das nicht zu einfach ist.
"Für mich sind das mehr universelle Themen, die ich da ansprechen möchte"
Rushdie: Die Wahrheit ist, als ich anfing, an dieser Geschichte zu arbeiten, hatte kein Mensch vom Islamischen Staat gehört, und ich glaube, meine Geschichte ist doch sehr viel allgemeiner. Ich würde sagen, auch wenn dieses Buch gewisse Echos der Gegenwart mit aufnimmt und natürlich zeitgenössische Aspekte hat, dann ist es aber kein Abbild von dem, was wir jetzt in den Nachrichtensendungen jeden Tag sehen. Es geht doch mehr um die Gegensätze zwischen Fragen wie diesen wiederkehrenden Motiven, die wir haben: Das Rationale und das Irrationale, eben das Gute und das Böse, Toleranz und Fanatismus. Und das sind doch wiederkehrende Themen für die Menschheit und haben doch nicht nur mit einer Aktualität zu tun, auch wenn sie sich gerade sehr stark manifestieren.
Aber für mich sind das mehr universelle Themen, die ich da ansprechen möchte. Eine Sache, die Literatur so gut kann, was man mit Literatur so gut ausdrücken kann, das ist es, Metaphern zu verwenden, die auch das Reale abbilden, das Reale darstellen. Und da gibt es viele Schriftsteller, die mich da beeindruckt haben. Und wenn wir jetzt schon mal hier in Berlin sind, möchte ich da Günter Grass nennen, der vor allen Dingen in jungen Jahren ganz großartig darin war, Metaphern zu finden, die es fühlbar gemacht haben, was der Horror und was der Schrecken bedeutet. Sein Einfluss auf mich war immens, aber es gibt auch den Einfluss von Schriftstellern von ganz anderen Teilen der Welt. Ich glaube, wichtig ist, dass wir Metaphern finden, die das Reale erfassbar machen.
Magenau: Das Gute und das Böse, das Irrationale und die Vernunft als Antipoden in diesem Buch tragen die Geschichte. Was genau ist für Sie, wenn Sie eine universelle Metapher suchen, das Böse?
Rushdie: Leider ist es viel zu einfach geworden, diese Frage zu beantworten. Wir haben das neulich in Paris gesehen, was das Böse wirklich ist.
Magenau: Und wie kommt es, dass die Leute, die das Böse tun, sich immer auf Gott berufen? Spricht das dann gegen Gott?
"Kurz nachdem man sich Gott ausgedacht hatte, geriet er außer Kontrolle"
Rushdie: Wie Sie wissen, bin ich kein allzu großer Fan von Gott. Es geschehen so schreckliche Dinge im Namen Gottes, dass man sich mal langsam fragen sollte, was das für eine Person sein sollte, in deren Namen so schreckliche Dinge geschehen. Es ist kein Geheimnis, dass ich der Meinung bin, die Welt wäre ein besserer Ort ohne Götter. Leider wird das in absehbarer Zeit wohl nicht geschehen. Eine Figur, eine Nebenfigur in meinem Roman ist ein Engländer, Mr. Casterbridge, der behauptet, dass Gott von den Menschen ausgedacht wurde. Aber das Problem war, kurz nachdem man sich Gott ausgedacht hatte, geriet er außer Kontrolle. Und nun ist es fast unmöglich geworden, das zu kontrollieren, was man einmal geschaffen hat, und es wirkt fast so, als ob das uns Menschen nun zerstört, weil wir uns Gott ausgedacht haben.
Und so werden wir in gewisser Weise für das Verbrechen, uns Gott ausgedacht zu haben, bestraft. In meinem Buch stelle ich eine Analogie zu dem Actionfilm "Terminator" mit Arnold Schwarzenegger her, wo die Menschen sich Maschinen ausgedacht haben, die plötzlich mächtiger werden als sie selbst und versuchen, alles zu zerstören. Und da gibt es dann diesen Himmelsgott, der mit Skynet, also dem, was in Terminator gezeigt wird, irgendwo vergleichbar ist.
Magenau: In dem Roman geht die Geschichte aus von dem Philosophen Ibn Rusd, einem Aristoteliker, Aristoteles-Kommentator des 12. Jahrhunderts, der nicht ganz zufällig heißt wie Sie, Ibn Rushdie – was hat es mit dieser Verwandtschaft auf sich?
"Mein Vater hat unseren Familiennamen einfach geändert"
Rushdie: Mein Vater liebte Ibn Rusd und hat unseren Familiennamen einfach verändert. Mein Großvater nannte sich noch nicht Rushdie. Es war eine Fan-Geste, wenn Sie so wollen. Was hier sehr wichtig ist in dieser Geschichte, ist eben, dass die Hauptfigur, Ibn Rusd, eben ein Mann des Geistes, er verliebt sich in eine Art Dschinn-Prinzessin, also eine fantastische Frauenfigur, und die vielen Kinder, die Sie haben, all ihre Nachkommen, die haben sich gewisse Möglichkeiten bewahrt, Wunder oder kleinere Wunder auszuführen.
Und die Stärke liegt eben darin, dass dann die Kindern den düsteren Dschinns, also den bösen Geistern, letztendlich auch widerstehen können und ihnen eben auch Mittel der Vernunft entgegensetzen können. Was mich interessiert hat, war praktisch, einen Mann des Geistes mit einer Märchenprinzessin zu verkuppeln. Diese Ideen basieren auf Goyas Bild "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", wo eben Geist und Fantasiewelten vermischt werden. Goya hat selbst gesagt, wenn es gelingt, die Kräfte der Fantasie mit den Kräften des Geistes zu vermengen, dann hat das eine positive Kraft. Aber wenn die Fantasie nicht mehr durch den Geist gebändigt werden kann, entwickelt es sie eine zerstörerische Kraft, und dann kommt es zu den Monstern. Ibn Rusd und Dunja, sie schaffen durch ihre Vermischung etwas sehr Positives und können so eben auch den Kräften des Bösen widerstehen.
Magenau: Die Geschichte ist ja aus einer Zukunft in tausend Jahren erzählt, im Rückblick, und die Welt dann, in Zukunft, die ist befriedet, weil nur noch die Vernunft gesiegt hat, und die Übergänge zum Irrationalen, zur Traumwelt, zur Dschinn-Welt sind geschlossen. Das heißt aber, was Sie gerade gesagt haben, dass Traum und Vernunft gemeinsam etwas Schönes hervorbringen, kann dann gar nicht mehr stattfinden. Es gibt keine Träume mehr in dieser Welt. Der Frieden, der dann existiert, ist da der Preis nicht aber viel zu groß dann, wenn nicht mehr geträumt wird?
Rushdie: Wissen Sie, das ist immer das Problem, es gibt einfach kein kostenloses Essen. Was ich damit sagen wollte, ist, es ist ja oft so, dass man sich im Märchen etwas wünscht, aber dass man ein bisschen aufpassen muss, was man sich wünscht, weil was man bekommt, ist vielleicht nicht das, was man sich ursprünglich gewünscht hat. Ich wollte ganz einfach nicht dieses naive Märchen-Happyend machen, sondern wollte sagen, ja, es ist ein schönes Ende, aber – und dieses Aber besteht eben darin, die Menschen haben es jetzt geschafft, einen gewissen hohen Grad an Zivilisation zu erreichen, in dem Frieden stattfindet, Aufklärung, in dem wir alle weise sind, aber, ganz ehrlich, das ist auch ein bisschen langweilig. Vielleicht ist das Düstere und sind die Albträume in uns auch etwas, das wir nötig haben.
Magenau: Scheherazade in "Tausendundeine Nacht" ist eine Erzählerin, die um ihr Leben erzählt. Je länger sie spricht, je mehr Geschichten sie auf Lager hat, umso länger lebt sie. In Ihrem Leben ist es umgekehrt. Ibn Rusd sagt zu seiner Geliebten an einer Stelle: Wenn all das, was ich dir erzähle, publik würde, würde ich sofort umgebracht werden. Warum also trotzdem weiter erzählen, warum weiter Geschichten?
"Der Geschichtenerzähler wird automatisch zum Feind jeder Diktatur"
Rushdie: Es gibt da so ein paar seltsame Gründe, die das verstärken, weil es interessant ist, dass Tyrannen eine gewisse Angst vor fabulierten Geschichten haben. Ein Diktator oder ein Despot möchte alles kontrollieren, auch die Geschichten, die erzählt werden. Deswegen kann er einen freien Geist nicht akzeptieren, deswegen wird Literatur nicht akzeptiert. Literatur stellt alles in Frage, Literatur stellt eine Herausforderung dar, und so wird der Geschichtenerzähler automatisch zum Feind jeder Diktatur oder jeglicher Fanatiker. Und das besteht einfach darum, dass sie den Literaten ihre Sicht auf die Welt oder ihre Geschichten nicht mehr diktieren können.
Magenau: Kann man mit Literatur, mit Geschichten die Welt verändern oder verbessern gar?
Rushdie: Ehrlich gesagt, glaube ich das nicht wirklich. Es ist auch falsch, wenn man Literatur zu viel Bedeutung beimisst oder zu viel dann behauptet. Vielleicht gibt es nur ein bis zwei Bücher, die die Welt wirklich verändert haben, beispielsweise "Onkel Toms Hütte", weil das ein Buch ist, das sich so meisterhaft und so stark mit der Frage der Sklaverei in den USA auseinandergesetzt hat, dass Abraham Lincoln, als er die Autorin, Harriet Beecher Stowe, traf, zu ihr gesagt hat, oh, Sie sind diese kleine Frau, die diesen großen Krieg ausgelöst hat.
Magenau: Vielen Dank, Herr Rushdie, für das Gespräch, vielen Dank, dass Sie zu uns gekommen sind.
Rushdie: It's great to be here, thank you!
Magenau: Und ebenfalls vielen Dank an Jörg Taszman für die Übersetzung. Der Roman "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" ist bei Bertelsmann erschienen, aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier, 384 Seiten kosten 19,99 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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