Sally Nicholls: "Wünsche sind für Versager"

... und Liebe ist was für Weicheier

Kinder und ihre Aggressionen
Kinder und ihre Aggressionen © imago stock&people
Von Sylvia Schwab · 22.06.2016
Dies ist bereits der fünfte Roman der englischen Jugendbuchautorin Sally Nicholls. Der Leser folgt hier nun einem Kinderschicksal, das eigentlich nur schwer zu ertragen ist: Die erst elfjährige Olivia blickt zurück auf ihre brutale Mutter und ihre 15 bisherigen Pflegestationen.
Ein bitterer Titel und eine bittere Geschichte. Die elfjährige Olivia kommt in ihrem Zuhause Nr. 16 an, bei den Iveys. Fünfzehn mal wurde sie woanders schon rausgeschmissen, von ihrer Mutter, von Pflegeeltern, diversen Heimen und Übergangslösungen und sogar von Paaren, die vorhatten, das Mädchen zu adoptieren. Immer scheiterten die Versuche, Olivia ein wirkliches Zuhause zu schaffen.
Olivia selbst erzählt ihre Geschichte, nicht in der Sprache einer Elfjährigen, sondern mit dem scharfen Verstand und der Sensibilität einer jungen Frau, der nichts mehr passieren kann, weil sie schon alles erlebt und durchlitten hat. Sehr schnell wird klar, wo ihr tiefes Trauma liegt: bis sie zum fünften Lebensjahr war Olivia (gemeinsam mit ihren Geschwistern) der alkoholsüchtigen, brutalen Mutter schutzlos ausgeliefert. Damals wurde ihr Grundvertrauen in Erwachsene, auch in die gut gesinnten, zerstört - wie auch ihr Selbstvertrauen. Seitdem ist sie gefangen in einem Teufelskreislauf, der aus Hass, Angst und Gewalt entstand und nun immer neuen Hass, neue Angst und Gewalt hervorbringt. Das geht so weit, dass Olivia in besonders schlimmen Momenten aus ihrem Körper "verschwindet" und schizophrene Züge annimmt.

Tieftraurig und zugleich spannend

"Wünsche sind für Versager" ist ein tieftrauriger und zugleich spannender Jugendroman - kein Kinderbuch für Elfjährige! Olivias Geschichte geht an die Nieren und macht Herzklopfen, nicht nur weil er von schrecklichen und schlimmen Erfahrungen erzählt, sondern vor allem dadurch, dass er aufdeckt, was schreckliche Kindheitserlebnisse mit einem Menschen machen. Wie Olivias unendliches Misstrauen ihre Seele zerfrisst und jede neue Beziehung untergräbt.
Immer tiefer tauchten die Leser in Olivias Geschichte ein – ein erzählerischer Trick, der erstaunliche Wirkung zeigt: Sally Nicholls erzählt rückwärts, angefangen bei Zuhause Nr. 16 – da ist Olivia endlich in einer Familie angekommen, die es mit ihr aushält, sie mag und vorübergehend zur Ruhe kommen lässt – bis zum Zuhause Nr.1, dem katastrophalen Leben mit der Mutter.

Zurück bis zu den Gründen für Ängste und Aggressionen

Diese Rückwärtsbewegung bis zu den ersten prägenden Eindrücken und Wurzeln von Olivias Verhalten ist packend und wird bohrend immer weiter getrieben. Am Ende des Romans ist man am Anfang ihrer Geschichte angekommen. Kein Happy End also, aber auch kein verzweifeltes Ende. Sally Nicholls lässt es offen, wie es mit Olivia weiter geht - so wie das Leben selbst.
Überflüssig zu sagen, dass dieser Roman großartig geschrieben ist: knapp, klug und konzentriert. Aus tiefem Empfinden für die zerbrechliche Kinderpsyche heraus, sprachlich inspiriert und mit einer luziden Klarheit: "Ich würde mich auch hassen, wenn ich mit mir zusammenleben müsste", sagt Olivia einmal. Sally Nicholls hat die großen Themen der antiken Tragödie – der Fluch der Herkunft, Schuld, Angst und Aggression – in einen zutiefst beunruhigenden Jugendroman gepackt. Er macht sprachlos, gibt aber auch Hoffnung.

Sally Nicholls, Wünsche sind für Versager
Aus dem Englischen von Beate Schäfer, Carl Hanser Verlag, München 2016, 224 Seiten, 15,90 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

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