Säbelrasselnde Ignoranz des kaiserlichen Militärs

Von Patric Seibel · 28.10.2013
Mit seiner Überheblichkeit und Arroganz löst ein junger preußischer Leutnant im elsässischen Ort Zabern durch beleidigende Äußerungen einen Skandal aus. Die sogenannte Zabern-Affäre wurde zum letzten großen Lehrstück über die Borniertheit des Militärs im deutschen Kaiserreich.
Er ist schneidig, schnoddrig, arrogant: der junge preußische Leutnant Günter Freiherr von Forstner. Am 28. Oktober 1913 hält der 20-Jährige seinen Rekruten in der elsässischen Garnison Zabern eine folgenreiche Instruktionsstunde. Er weist sie an, vom Seitengewehr Gebrauch zu machen, falls sie in Streit mit Zivilisten gerieten. Dann wendet er sich an einen Soldaten, der wegen Messerstecherei vorbestraft ist:

"Und wenn Sie dabei so einen ‚Wackes‘ über den Haufen stechen, so schadet es nichts. Sie bekommen dann von mir noch zehn Mark Belohnung."

"Wackes" ist ein Schimpfwort für Elsässer. Es heißt so viel wie: Strolch, Tagedieb, Faulenzer. Der Ausdruck ist den Soldaten per Befehl verboten, denn die Atmosphäre im seit 1871 zum Deutschen Kaiserreich gehörigen Elsass ist aufgeladen. Seit der Jahrhundertwende häufen sich Zusammenstöße zwischen Zivilisten und Armeeangehörigen. Die Militärs begegnen den Einheimischen mit Ignoranz und säbelrasselnder Autorität.

Anderthalb Wochen nach der Instruktionsstunde berichtet der "Zaberner Anzeiger" über die verbale Entgleisung des Leutnants. In der Kleinstadt beginnt es zu brodeln.

Der deutsche Statthalter Graf Wedel empfiehlt, den Leutnant zu versetzen. Aber dessen Vorgesetzte General von Deimling und Oberst von Reuter denken nicht daran, vor Zivilisten zu kuschen.

Wann immer sich Leutnant von Forstner im Städtchen zeigt, laufen Passanten und Gassenjungen zusammen. Sie lachen ihn aus, rufen "Wackesleutnant" und "Bettschisser". Ein Hotelzimmermädchen hatte nämlich pikante Details über die Folgen eines Saufgelages ausgeplaudert. Regimentskommandeur von Reuter schäumt. Er lässt den Leutnant von einer bewaffneten Eskorte begleiten: ins Restaurant, zum Tabakladen, in die Konditorei.

Am Abend des 28. November versammeln sich einige Dutzend meist jugendliche Demonstranten vor dem Kasernentor. Oberst von Reuter lässt bewaffnete Mannschaften ausrücken und unter Trommelwirbel den Belagerungszustand verkünden: Seine Soldaten nehmen wahllos 30 Personen fest und sperren sie über Nacht in den Kohlenkeller der Kaserne: ohne Licht und ohne sanitäre Anlagen. Auf die dringende Bitte eines Kreisbeamten, die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, poltert der Oberst:

"Ich betrachte es vielmehr als ein Glück, wenn jetzt Blut fließt ... Ich habe jetzt das Kommando, ich bin es der Armee schuldig, Respekt zu verschaffen."

General von Deimling kommentiert die Geschehnisse mit einem Zitat aus Schillers Wallenstein:

"Mars regiert die Stunde."

Jetzt wird die Provinzposse zur nationalen Affäre. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert mit einem Sturm der Entrüstung. Korrespondenten aus dem In- und Ausland reisen an, um über die Geschehnisse zu berichten.

Wenige Tage darauf marschiert Leutnant von Forstner mit Soldaten durch ein Nachbardorf. Eine Gruppe Schuharbeiter ruft die üblichen Schmähworte. Die Soldaten erwischen nur einen gehbehinderten Gesellen und halten ihn fest. Von Forstner haut ihm den blanken Säbel über den Kopf und fügt ihm eine fünf Zentimeter tiefe Wunde zu.

In Berlin debattiert der Reichstag über die Vorgänge. Als Kanzler Bethmann-Hollweg laviert und sich auf die Seite des Kriegsministers schlägt, kommt es zu Tumulten. Die Parlamentarier sprechen ihm mit überwältigender Mehrheit das Misstrauen aus. Ein Votum ohne Folgen, denn der Reichskanzler untersteht nur dem Kaiser. Die Demokraten haben nicht die Stärke, das überkommene wilhelminische Regime herauszufordern.

Wilhelm II. schaltet sich persönlich ein. Er stärkt dem kommandieren General von Deimling den Rücken. Kronprinz Wilhelm von Hohenzollern telegrafiert an die Offiziere im Elsass:
"Immer feste druff."

Die Vorgänge kommen vors Kriegsgericht. Oberst von Reuter wird freigesprochen, in zweiter Instanz auch Leutnant von Forstner. Dessen Säbelhieb gegen den wehrlosen Schustergesellen wertet das Berufungsgericht als "putative Notwehr".

Einmal mehr behauptet das Militär seine Sonderstellung im Kaiserreich. Heinrich Mann verarbeitet die Zabern-Affäre in seinem Roman "Der Untertan" und Kurt Tucholsky spottete in einem Gedicht:

Ein ‚Mann‘ mit einem langen Messer,
und zwanzig Jahr –
ein Held, ein Heros und Schokladenesser,
und noch kein einzig Schnurrbarthaar.
Das stelzt in Zaberns langen Gassen
und kräht Sopran –
Wird man das Kind noch lange ohne Aufsicht lassen? –
Es ist die allerhöchste Eisenbahn!