Sadik al-Azm

Gegen die alten Fesseln vom Osten und Westen

Der syrische Philosoph Sadik Al-Azm 2015 bei der Verleihung der Goethe-Medaillen in Weimar
Der syrische Philosoph Sadik Al-Azm 2015 bei der Verleihung der Goethe-Medaillen in Weimar © dpa / picture alliance / Martin Schutt
Von Philipp Schnee · 24.04.2016
Der syrische Philosoph Sadik Al-Azm kämpft auf allen Seiten gegen das, was er für anti-aufklärerisches, gegen die Moderne gerichtetes Denken hält. Bei einem Vortrag in Berlin attackierte er das Konzept des "Okzidentalismus" - sei er akademisch, rachsüchtig oder vulgär.
Ein streitbarer Kopf, der mit Lust intellektuell ficht, ist Sadik al-Azm noch immer, das beweist er auch an diesem Abend in Berlin. So wie er das Konzept des Orientalismus von Edward Said ablehnte, lehnt er auch den Okzidentalismus ab. Den Versuch, aus einer dezidiert nicht-westlichen Perspektive "den Westen", seine Kultur, seine Gesellschaften zu erforschen oder gar den Orient als einem dem Westen überlegenen Kulturraum konfrontativ in Stellung zu bringen. Und al-Azm greift an. Drei Formen des Okzidentalismus unterscheidet er:
"First, academic occidentalism and its discontents. Second is vendetta or retaliatory occidentalism and third ist vulgar and spiteful, talibanish-kind of occidentalism."
Einen akademischen, einen Rache- oder Vergeltungs-Okzidentalismus und einen vulgären, boshaften, taliban-artigen. Den akademischen Okzidentalismus verbindet al-Azm zum Beispiel mit dem Aufruf des ägyptischen Philosophen Hassan Hanafi, systematisch die westlichen Gesellschaften, Kulturen, ihre Geschichte, Wirtschaft und Politik zu erforschen. Das Problem dabei:
"Der Okzidentalismus als Wissenschaft führt zu einer Wiederbestätigung und Aufwertung der so sehr verachteten westlichen Wissenschaft des Orientalismus. Er reproduziert nur immer wieder den viel kritisierten Essentialismus des verachteten Orientalismus. Er gibt die Möglichkeit auf, den obsoleten historischen Konflikt 'Orient' versus 'Westen' zu transzendieren."
Weiter noch: Implizit erhebe der akademische Okzidentalismus den Anspruch, "authentisch" zu sein und damit den Anspruch, von islamischen und arabischen Grundlagen und Prinzipien auszugehen:
"Das führt den akademischen Okzidentalismus gefährlich nah an fundamentalistische Bewegungen, die nach einer Islamisierung von Wissen rufen, eingeschlossen etwa 'islamische' Mathematik."

Nebulöses Chaos und westlicher Kosmos

Die zweite Form − das, was al-Azm als Vergeltungs-Okzidentalismus bezeichnet − verbindet er unter anderem mit dem syrischen Dichter und Intellektuellen Adonis:
"Für Adonis ist der Westen, Zitat, 'Technik, Vernunft, System, Ordnung, Methode' usw. wohingegen der Osten 'prophetisch, visionär, magisch, unendlich, innerlich, transzendent, ekstatisch' und so weiter sei. Der Osten ist in seine Worten eine Art ursprüngliches, nebulöses Chaos, aus dem der daraus abgeleitete westliche Kosmos entsprang."
Wenn also Edward Said ursprünglich davon sprach, dass der Westen den Orient erst "orientalisierte", durch die Wissenschaft des Orientalismus, so würde der Westen, sobald der kreativ handele, sich selbst orientalisieren. Als "umgekehrter Orientalismus", bezeichnet das al-Azm, plumpe Versuche die Überlegenheit des Orients zu beweisen. Von dort ist es nicht mehr weit zum "vulgären" Okzidentalismus:
"Now I come to the vulgar, barbar and spitful, talibanish variety of occidentalism."
Das Selbstverständnis der dritten Form des Okzidentalimus beschreibt al-Azm so:
"Was ihr unsere Rückständigkeit nennt, ist unsere Authentizität. Was ihr unseren Primitivismus nennt, ist unsere Identität. Was ihr unsere Brutalität nennt, ist unsere heilige Tradition. Was ihr als Ungebildetheit verachtet, sind unseren alten Bräuche."

Blonde Bestie und "muslimische Bestie"

Und hier wird klar: Al-Azm kämpft auf allen Seiten gegen das, was er als anti-aufklärerisches, gegen die Moderne gerichtetes Denken hält, er entdeckt Parallelen zu der anti-aufklärerischen Rechten im Westen. Und beschreibt die Faszination, mit der westliche Philosophen teils diese wilden, ungezähmten, sich gegen die moderne Zivilisation richtenden Bewegungen in ihren Schriften feiern. Spuren davon entdeckt er etwa bei Foucault, Jean Baudrillard, Michael Hardt und Antonio Negri:
"Michael Hardt and Antonio Negri speek in their internationally succesful book 'Empire' of, quote, 'a new nomade horde, a new race of barbarians, that will arise, a new positive barbarism' …"
"Da bin ich schon in Versuchung, in all dem eine europäische Nostalgie zu sehen, die davon träumt, Nietzsches erschöpfte blonde Bestie durch eine neue, kraftvollere, muslimische braune Bestie zu ersetzen."
Al-Azm kann noch streiten und kraftvoll, auf Wirkung bedacht, zuschlagen. Und plädiert für eine Blick auf die Gemeinsamkeiten:
"for a new scholarly horizon, beyond the old shakles of the east and the west, orient and occident ..."
Für einen neuen wissenschaftlichen Horizont, jenseits der alten Fesseln vom Osten und Westen, vom Orient und Okzident. Für nüchterne Wissenschaft. Und die Freude am wissenschaftlichen Disput lässt er sich auch von seinem nachlassenden Gehör nicht nehmen. Zur anschließenden Diskussion seines Vortrags springt der 81-Jährige vom Stuhl auf ...
"Wait, what I will do, I come to you, because I cannot hear."
… und mischt sich, um besser zu hören und diskutieren zu können, unter sein Publikum.
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