Sachbuch

Wir Fremdbestimmten

Eine Menschenmenge wird verzerrt und verschwommen dargestellt.
Wenn wir glauben, unserer ganz eigenen, inneren Stimme zu gehorchen, täuschen wir uns, schreibt Arno Gruen. © picture-alliance/ dpa / Fredrik von Erichsen
Von Eike Gebhardt · 07.11.2014
Meistens entscheiden wir gar nicht selbst, sondern vertreten nur die verinnerlichten Ansichten anderer, sagt der amerikanische Psychoanalytiker Arno Gruen. Sein Buch "Wider den Gehorsam" ist eine Kritik an unserer Kultur des Folgsam-Seins.
Ein Sprengsatz im Gewand sanfter Kulturkritik ist dieses kleine Buch. "Wir, die wir uns für so individualistisch halten", schreibt der 1923 in Berlin geborene amerikanische Psychoanalytiker Arno Gruen, "verwechseln die Konstruktion einer persona mit der eigenständigen Entwicklung eines Selbst." Für ihn ist unsere soziale Position – auch im privaten Leben – im Grunde eine Maske aus einem sozialen Theaterfundus (nichts anderes heißt ja persona in der lateinischen Ursprungsbedeutung). Im besten Fall von uns selbst gewählt, im Regelfall allerdings von Eltern oder anderen Belohnungssystemen für uns ausgewählt.
Pflicht und Verantwortung als bewundernswerte Tugenden
Solange wir diese Angebote oder Zwänge verinnerlichen, wir wollen uns ja Liebe und Lohn mit Wohlverhalten verdienen, sind wir nur noch ausführende Organe des Willens Anderer; gerade wenn wir meinen, nur unserer inneren Stimme zu gehorchen, täuschen wir uns darüber hinweg, dass es die Stimme Anderer ist, die wir, weil verinnerlicht, als unsere eigene empfinden. Schließlich hat unsere Kultur Pflicht und Verantwortung zu "bewundernswerten" Tugenden erklärt und das heißt eben: Fremdbestimmung, das Vollstrecken eines fremden Willens. Eichmann lässt grüßen.
Natürlich bleibt da – so Gruen – ein vages Gefühl, dass wir meist gar nicht selber urteilen und entscheiden. Um diesem demütigenden Gefühl zu entrinnen, geschieht etwas Merkwürdiges: Wir verinnerlichen gleich auch noch den, der uns das antut, den Menschen oder die Institution. "Identifikation mit dem Aggressor", heißt das im psychoanalytischen Jargon. "Es ist mehr als merkwürdig, dass ein Mensch, wenn er bedroht und terrorisiert wird, dazu neigen kann, sich mit demjenigen zu identifizieren, der ihn terrorisiert", wundert sich Gruen. Zugleich aber "entstehen [so] auch Gefühle wie Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit, weil wir uns minderwertig fühlen."
Gehorsam begrenzt das Denken
Die wiederum erzeugen ein schlechtes Gewissen. Und "da Schuldgefühle als Mittel benutzt werden, uns gefügig zu machen, können wir uns nicht durch Übernahme von Verantwortung befreien, die ein wahres Schuldgefühl uns selbst gegenüber herbeibringen würde." Ein Teufelskreis also.
Gruens Einsicht lautet: "Gehorsam [ist] Fundament und Pathologie unserer Kultur." Pathologisch, denn Gehorsam ist destruktiv. "Gehorsam grenzt das Denken ein und verneint die Realität." Mit Gehorsamkeit als Tugend werden wir das mündige Individuum weder fordern noch fördern können, im Gegenteil, wir verhindern es. Gruens Argument zielt darauf, dass die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden sind – egal, ob Herrschaft des Geldes, des Militärs, der Religion oder der Ideologie.
Keiner von Gruens Kollegen hat die Psychoanalyse derart konsequent und grundsätzlich zur Zivilisationskritik weiterentwickelt. Die psychosozialen Motive der DDR-Revolution z.B. ließen sich mit seiner Grundsatzkritik unserer Werte ziemlich schlüssig erklären – und ebenso das Zögern im Westen, das Herrschafts- und Kontrollinteresse hinter unseren Wertvorstellungen zu thematisieren.

Arno Grün: Wider den Gehorsam
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
97 Seiten, 12 Euro

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