Sachbuch

Wie der mörderische Dschihadismus entstanden ist

Unterstützer der Terrorgruppe IS während einer Demonstration in Syrien.
Unterstützer der Terrorgruppe IS während einer Demonstration in Syrien. © afp / Karam Al-Masri
Von Pieke Biermann · 29.10.2014
Ein Beitrag zur Enthysterisierung: Behnam T. Said macht die Bedingungen, unter denen der IS entstehen konnte, handfest nachvollziehbar. Dass er für den Verfassungsschutz arbeitet, rettet ihn vor Klischees à la "religiöser Wahn", macht seinen Blick angenehm praxisnah und seine Prosa klar und schnörkelfrei.
Das Ende des Kalten Krieges war längst nicht das von Francis Fukuyama 1992 verkündete "Ende der Geschichte". Das Modell Demokratie & Marktwirtschaft hatte keineswegs weltweit gesiegt und jeder Systemkonkurrenz die Energie entzogen. Spätestens am 11. September 2001 war klar: Niemand entkommt der Geschichte, und sie wird eher noch atavistischer. Gegen einen auf einem Menschenbild aus dem 7. Jahrhundert gründenden Jihadismus wirkt selbst Stalins Kommunismus wie vernunftbegabtes Gerangel um das bessere System im Sinne der Menschenrechte. Die böse alte Systemfrage ist also zurück, und mit ihr auch die "moral panic", jene ideelle Gesamthysterie, die sich so wunderbar – und dank viraler Verbreitungswege heute so viel effektiver – politisch manipulieren und ökonomisch ausbeuten lässt
Gegen Hysterie hilft Aufklärung. Behnam T. Saids neues Buch "Islamischer Staat" ist ein hochwirksames Antidot: gut 200 kompakte Seiten mit Zeittafel, Register und Literaturtipps. Der gelernte Islam-, Politik-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler arbeitet heute für den Hamburger Verfassungsschutz. Das macht seinen Blick angenehm zielgerichtet und praxisnah und seine Prosa klar und schnörkelfrei. Prompt vergisst man beim Lesen Klischees à la "religiöser Wahn" oder "durchgeknallte Jungmachos".
IS nicht plötzlich vom Himmel gefallen
Said leuchtet die materiellen Bedingungen aus, unter denen der IS, vormals ISIS, entstehen konnte. Denn der ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, als Zerfallsprodukt eines angeblich geschlagenen Al-Qaida-Terrorismus. Seine Geschichte ist vielmehr handfest nachvollziehbar, geprägt von lokalen Diktatoren, geostrategischen Interessen und mörderischen Repressionen gegen die Bevölkerungen im Nahen und Mittleren Osten. Sie beginnt im Syrien der frühen 60er-Jahre mit verschiedenen Dschihadversuchen gegen das Ba'th-Regime von Assad Senior und bekommt richtig Schubkraft durch den Krieg im Irak 2003.
Der heutige globale Dschihadismus hat, wie Said es nennt, ein langes Gedächtnis, in dem sich religiöse, innenpolitische und ethnische Differenzen und internationale Ereignisse gegenseitig befeuern. Was die Sowjetunion in Afghanistan und im Kaukasus, was der Iran mit dem eigenen Land, was "der Westen" samt den Golf-Reichen in der Levante angerichtet haben, das alles hat dem militanten Islamismus Wege geebnet; begünstigt leider auch vom "Arabischen Frühling" und von den schönen nicht-klerikalen Demokratiebewegungen.
Mörderischer Dschihadismus ist Menschenwerk
Und es hat ihn von Anfang an internationalisiert und attraktiv gemacht für "Legionäre" aus aller Welt – zum Beispiel aus Deutschland. Said zeichnet auch die Geschichte der deutschen "Brigadisten" nach, ihre Netzwerke und Aktivitäten, vom Spendensammeln über Hightech-Agitation bis hin zum Dienst an den jeweils aktuellen Fronten. Und schließlich – das ist womöglich sein wertvollster Beitrag zu Enthysterisierung – befreit einen Said von falschen Bildern: Auch der akute mörderische Dschihadismus ist kein Monolith, sondern Menschenwerk – zerstritten, widersprüchlich, historisch, also endlich.

Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden
Beck Verlag, München 2014
224 Seiten, 14,95 Euro

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