Sachbuch über Gesichtsbilder

Schon in der Renaissance wurde geschönt und retuschiert

Von Hannah Bethke · 16.08.2015
Ein Buch über "Ich-Plakate" - was soll das sein? Der Autor Valentin Groebner versteht darunter öffentlich ausgehängte Porträts von Menschen. In seinem Sachbuch widmet er sich der Kulturgeschichte dieser Gesichtsbilder - in der Sache informativ, aber sprachlich ohne rechten Schwung.
"Ich-Plakate" – das ist das Thema des jüngsten Buches von Valentin Groebner, Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Das "Ich" zeigt sich in Form des menschlichen Gesichts, das Groebner als "Aufmerksamkeitsmaschine" beschreibt.
Dieses Vokabular lässt einen zunächst aufhorchen, und sei es nur, weil man seinen Sinn nicht so recht versteht – "Ich" klingt gut und sehr modern, doch auf welche Weise wird das Ich plakatiert, und warum hat das Gesicht dabei eine maschinelle Funktion?
Die Werbeplakate des 21. Jahrhunderts sind der Auslöser für Groebners Suche nach Bildern von Gesichtern – "stillgestellt und zweidimensional", nicht in Bewegung, sondern gemalt und fotografiert. Gesichtsbilder sprechen zu uns, sie produzieren "Identifikationsfiktionen", suggerieren Intimität und transformieren "unbelebte Dinge", also das Papier, auf dem sie gedruckt oder gemalt sind, in Personen.
Omnipräsenz von übernatürlichen Gesichtsbildern
Der öffentliche Raum ist voll von diesen großformatigen Werbeplakaten; kaum ein Platz, eine Bus- oder U-Bahnhaltestelle, in der uns nicht ein riesiges Gesicht anlächelt und uns zum Konsum von Dingen animiert, die plötzlich eine Seele zu haben scheinen. Doch diese Omnipräsenz von übernatürlichen Gesichtsbildern, und das ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis des Buches, ist kein neuartiges Phänomen unserer Zeit, sondern sie reicht bis ins Mittelalter zurück.
Die ersten realistischen Porträts datiert Groebner entsprechend der einschlägigen Forschung auf das 14. Jahrhundert. Zeitgleich entstehen auch Beschreibungen und mehr noch Zuschreibungen derjenigen, die die Bilder betrachten. Ähnlich wie heute, wenn wir uns ein fotografiertes Gesicht anschauen, bleibt es nicht bei einer Expertise über Ästhetik und Kunst, sondern wir neigen schnell dazu, dem oder der Porträtierten richtige Charaktereigenschaften zuzuschreiben, ebenso Gefühle, in manchen Fällen gar eine ganze Biographie.
Gesichter, die sich in übernatürlicher Schönheit präsentieren
Auch der verbreitete selbstkritische Blick auf ein Bild, das von unserem eigenen Gesicht angefertigt wurde, und die daraus resultierende Praxis der Schönfärberei, die alles, was nicht gefällt, übermalt und retuschiert, ist laut Groebner nicht ein Produkt unserer Zeit, sondern bereits in der Renaissance anzutreffen.
Groebner erzählt die Geschichte der Entstehung und Wirkung von Gesichtsbildern chronologisch von den Renaissanceporträts über die Entstehung der Fotografie im 19. Jahrhundert bis zur Digitalisierung von Bildern heute. Das ist durchaus informativ, doch trotz der Kürze des Buches ohne rechten Schwung geschrieben. Während die Lektüre im langsamen Erzählmodus des Historikers oft ermüdend wirkt, ist sie in ihrem Aktualitätsbezug dennoch erhellend: Denn das Wissen, dass die massenhafte Verbreitung von immer neuen Gesichtsbildern, die sich in übernatürlicher Schönheit präsentieren, keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist, schützt vor einem kulturpessimistischen Blick auf unsere Zeit.
Die Sorge, dass uns die vielen geschönten Gesichter Schaden zufügen könnten, indem sie die Menschen gleichförmig und stumpfsinnig machen, gab es schon im Mittelalter – und sie hat sich nicht bestätigt. Dass die "Identifikationsingenieure" mit Gesichtsbildern derart große Aufmerksamkeit erzeugen können, verweist daher vielleicht eher auf etwas, das die Menschen offensichtlich schon immer vor große Probleme gestellt hat: zu sich selbst ein harmonisches Verhältnis zu finden.

Valentin Groebner: "Ich-Plakate - Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine"
Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2015
224 Seiten, 22,99 Euro

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