Sachbuch

Trauma und Verelendung

Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg (1914-1918).
Soldaten auf dem Schlachtfeld von Verdun 1916 - die Folgen waren verheerend. © picture alliance / AFP
Von Wolfgang Schneider · 04.09.2014
Philipp Blom hat mit "Die zerrissenen Jahre: 1918 - 1938" ein historisches Panorama dieser Zeit geschrieben. Der Historiker macht dabei in jedem Kapitel die Traumatisierungen und Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs deutlich. Es ist ein fesselndes Buch.
Den Menschen, die die Kriege und Modernisierungskatastrophen des 20. Jahrhunderts erlebten, erschien die Zeit vor 1914 als stabil und verlässlich. Philipp Bloms Buch "Der taumelnde Kontinent" (2009) brach diese gewohnte Sichtweise auf. Die Idee vom "langen" 19. Jahrhundert, das erst 1914 zu Ende gegangen sei - sie erwies sich mit jedem Kapitel als noch ein bisschen falscher. Die meisten Themen und Motive der Moderne (Maschinenzeitalter, Massengesellschaft, Aufsprengen der Formen in Kunst, Musik, Literatur usw.) waren vor 1914 bereits hoch relevant.
Nun hat der Historiker ein weiteres historisches Panorama vorgelegt: "Die zerrissenen Jahre" beschäftigt sich mit den Jahren 1918 bis 1938. Die Traumatisierungen und Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs macht Blom bis in die kulturellen Verästelungen in jedem Kapitel seines Buches deutlich.
Eine starke These besteht darin, dass er den Krieg nicht als großen Bruch mit der Vorkriegswelt begreift. Anfangs von vielen Kriegsfreiwilligen als Ausweg aus den Ambivalenzen und Verunsicherungen der Moderne gesehen, brachte er genau das Gegenteil: ihre Intensivierung in der Materialschlacht. Die Front bot ein monströses Zerrbild der "malignen Moderne".
Verglichen mit der "schwindelerregend energiegeladenen Welt vor 1914", folgten nach dem Krieg Jahre der Stagnation und der Verelendung. In vielen Ländern setzte sich das Töten und Zerstören fort in erbarmungslosen Bürgerkriegen.
Ideologischer Krieg zwischen Sozialismus und Faschismus
Fast in ganz Europa tobte der ideologische Krieg zwischen Sozialismus und Faschismus. Hungersnot, das Trauma der Niederlage von 1918, Revolutionswirren, Straßenschlachten und politische Morde, Hyperinflation, schließlich das Desaster der Weltwirtschaftskrise. Dass die Deutschen nach diesen geballten Schreckenserfahrungen reif waren für einen Schmuddelmessias, der ihre "zerrissene" Welt zu heilen versprach, wundert nicht.
Bloms Darstellung gibt dem deutschen Elend einen Platz im internationalen Panorama. Aber auch die Siegermächte gingen ja geschwächt aus dem Krieg hervor. Frankreich litt unter den Kriegszerstörungen. Das englische Imperium war angeschlagen und stark verschuldet.
Klassenkämpfe und ethnische Konflikte beherrschten die Vereinigten Staaten. Spannende Ausführungen widmen sich dem Aufkommen der Jazzkultur, den moralischen Auswirkungen der Prohibition und dem Elend der Großen Depression. Jedes Kapitel ist mit einer Jahreszahl überschrieben. Aber Blom liefert keine Chronik, sondern setzt in seinen essayistischen Ausführungen wechselnd politisch-historische und kulturgeschichtliche Akzente.
Das Verdienst liegt nicht im Neuigkeitswert der einzelnen Fakten, sondern in der frischen, lebendigen Darstellung und den Verknüpfungen, im multiperspektivischen Blick auf eine an vielen Abgründen taumelnde Welt. Von einigen Sachfehlern abgesehen, ist "Die zerrissenen Jahre" ist ein fesselndes Lesebuch, das einen komplexen Blick auf eine oft geschichtspädagogisch reduzierte Epoche bietet und den Sinn für Zusammenhänge schärft.

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre 1918 - 1938, Hanser Verlag, 576 Seiten, 27,90 Euro

Mehr zum Thema