Sachbuch

Sicherheit und andere Problemzonen

Teilnehmer des 31. Chaos Communication Congress demonstrieren am Congress Center in Hamburg mit dem Plakat "Sie werden gerade überwacht".
Bedeutet das mehr Sicherheit? Frédéric Gros kümmert sich bei seinen Definitionsversuchen von Sicherheit auch um Problemfelder wie Überwachung, Schutz oder Kontrolle. © picture alliance / dpa / Malte Christians
Von Arno Orzessek · 12.02.2015
Was ist Sicherheit? - Frédéric Gros geht dieser Frage in "Die Politisierung der Sicherheit" nach. Der Philosoph schaut auf die Antike, das Mittelalter, die Neuzeit bis in die Gegenwart - in der das Freiheitsmedium Internet zum Sicherheitsinstrument mutiert.
Im Alltagsgebrauch wirkt das Wort "Sicherheit" keineswegs sperrig. Doch seine scheinbar klare Bedeutung trübt sich ein, sobald man so genau hinsieht wie Frédéric Gros. "Was ist Sicherheit? Ein Gefühl, ein politisches Programm, eine materielle Kraft, eine Nebelwand, eine Hoffnung, ein Fluch, eine pathologische Zwangsvorstellung, eine Quelle der Legitimität, eine Ware, eine öffentliche Dienstleistung?", fragt der Philosoph und isoliert im abendländischen Sicherheitsdiskurs vier maßgebliche Antworten.
In der Antike bezeichnete "Sicherheit" einen wünschenswerten Geistes- und Seelenzustand, der durch Vertrauen, Ruhe und Frieden gekennzeichnet war. Die Stoiker übten sich dabei in Gleichmut; die Epikureer ertüffelten ein Genuss-Konzept zur Sicherung ihrer Lebenslust; die Skeptiker fanden ihre Seelenruhe, indem sie der Wahrheitssuche entsagten.
Religiös inspirierte Sicherheitskonzepte
Gros beschreibt das so einfühlsam, dass man gern länger bei der Klugheit der Alten verweilte. Doch sogleich startet ein kulturhistorischer Parforce-Ritt durchs christliche Mittelalter. Viele Gläubige ersehnten das "tausendjährige Friedensreich" – laut der Offenbarung des Johannes ein irdisches Paradies mit Glücks- und Sicherheitsgarantie. Von der Sicherheit des Geistes über die urkommunistische Sicherheit durch Gleichheit bis hin zur Sicherheit, für die der "letzte Kaiser" bürgen sollte, reichen die religiös inspirierten Sicherheitskonzepte.
Dann dämmert der neuzeitliche "Garantiestaat" herauf. Dieser Staat, schreibt Gros nun in politologischer Diktion, wird zum Subjekt und Objekt der Sicherheit, die Sicherheit wiederum wird Endzweck und wichtigste Funktion des Staates. Rechtssicherheit, militärische und polizeiliche Sicherheit: Gros beleuchtete die handfesten Einrichtungen, die gegen den Rückfall in den unsicheren Naturzustand erdacht, verwirklicht und in totalitären Staaten pervertiert wurden.
Sicherheitsempfinden und innerer Frieden
Unter dem Label "Biosicherheit" schließlich reicht das Buch bis in unsere Tage. Es geht nun um den Mensch "als lebendes Subjekt, Lebenskern, biologische Individualität und Lebensstrom". Die Sache wird immer abstrakter; der Slang der Foucault-Schule dringt durch. Gros verbindet "Sicherheit" mit anderen Problemzonen: "Überwachung", "Schutz", "Kontrolle", "Regulierung". Er führt das Freiheitsmedium Internet als Sicherheitsinstrument vor, in dem jeder untilgbare Spuren hinterlässt. Schließlich schilt Gros die Unterwürfigkeit gegenüber dem Markt: Sicher funktionieren sollen heute in erster Linie ökonomische Prozesse.
Ja, das Buch beweist, was der Titel behauptet – "Die Politisierung der Sicherheit". Allerdings um den Preis abrupter Perspektivwechsel. Dabei hat Sicherheitsempfinden bis heute auch mit "innerem Frieden" zu tun, und "äußere Bedrohung" war schon in der Antike ein Sicherheitsproblem. Gros beginnt dabei im Ton eines Weisheitslehrers und endet als kapitalismuskritischer Traktatist. Restlos geschmeidig liest sich das nicht. Aber die Schlaglichter sind klar gesetzt.

Frédéric Gros: Die Politisierung der Sicherheit - Vom inneren Frieden zur äußeren Bedrohung
Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Matthes & Seitz, Berlin 2015
310 Seiten, 24,90 Euro

Mehr zum Thema