Sachbuch

Schlafen als revolutionäre Handlung

Ein Mann hat auf dem kräftigen Ast eines Baumes eine Decke ausgebreitet und sich zu einem Nickerchen hingelegt.
Gerade nicht verfügbar: Dieser Mann macht ein Nickerchen - gänzlich ineffizient. © dpa / picture alliance / Kolmikow
Von Günther Wessel · 05.11.2014
Schlaf als letzter Freiraum: In seinem Essay "24/7" schreibt der Kunsttheoretiker Jonathan Crary über eine Gesellschaft, die auf Effizienz und ständige Verfügbarkeit getrimmt ist. Eine wütende Analyse des Lebens im Spätkapitalismus.
Die Dachsammer, ein kleiner Singvogel, kann sieben Tage ohne Schlaf auskommen. Als der Kunsttheoretiker Jonathan Crary das erfährt und dazu sieht, dass US-Militärs diese Fähigkeit erforschen lassen, weil sie diese auch für ihre Kämpfer wünschen, schrillen bei ihm die Alarmglocken. Crary, der weiß, dass sich militärische Forschung oft in der Alltagswelt niederschlägt und eine rund um die Uhr wache Gesellschaft fürchtet, verfasst ein oft wütendes, stellenweise brillantes, wenn auch ab und an redundantes Essay.
Mehr und mehr ist unser Alltag geprägt vom 24/7-Rhythmus: 24 Stunden am Tag ansprechbar sein, sieben Tage die Woche. Wir leben in einer Gesellschaft, die immer effektiv ist und auch immer Effizienz von ihren Mitgliedern erwartet. Einen Freiraum bietet der Schlaf, was aus Sicht der 24/7-Kultur ärgerlich genug ist: Denn im Schlaf konsumiert man nicht (auch wenn der Verbrauch an Schlaf- und Entspannungsmitteln immer mehr zunimmt), und damit ist man unnütz für die kapitalistische Gesellschaft, in der Konsum erste Bürgerpflicht ist.
Crarys Buch handelt somit nicht nur vom Schlaf, es beschreibt wie sich unser Alltag im Laufe der letzten 20, vom Neoliberalismus geprägten Jahre verändert hat. Wie sich die vergleichsweise harmlos anmutende Konsumgesellschaft der 60er- und 70er-Jahre in die heutige verwandelt hat, in der kaum noch Freiräume existieren, die nicht vom Markt vereinnahmt werden. Dabei räumt er auch mit modernen Wahrnehmungsstörungen auf: Neue Technologien dienen nicht der Weltverbesserung, sondern Handys und Facebook sind zunächst einmal Produkte, die man kaufen soll. Und auch nicht die sozialen Netzwerke schaffen eine politische Bewegung, wie man in Arabischen Frühling meinte, sondern die Bewegungen nutzen das Netz, wenn auch nur eingeschränkt, da es leicht überwachbar ist.
Folgenreicher Trend der Selbstoptimierung
Interessant ist die Beobachtung, dass der Mensch heute versucht, sich individuell (auch durch Produkte oder Dienstleistungen) zu optimieren, sei es gesundheitlich oder wirtschaftlich, um individuell die Zerstörung natürlicher Ressourcen und sozialer Institutionen auszugleichen – gemeinsames, solidarisches Handeln ist ihm schon längst abgewöhnt worden. Anderes hingegen liest sich nur kulturkritisch, wenn Crary beispielsweise das Bloggen als den üblen Triumph des einseitigen Selbstgesprächs beschreibt. Über das Tagebuchschreiben, auch das zur Veröffentlichung bestimmte, würde er so etwas bestimmt nicht sagen.
Geschrieben ist das alles in einem für amerikanische Sachbuchautoren ungewöhnlichem Wissenschaftsjargon. Leider, denn diesem Essay, dieser stellenweise scharfen Analyse, wünscht man eine breite und wache Öffentlichkeit. Auch wenn er selbst keine Lösung hat. Crary träumt – der Traum entzieht sich wie der Schlaf ebenfalls der 24/7-Logik – von einem vagen Sozialismus, von einer, wie er schreibt, gemeinsamen Welt, ohne Barbarei und Milliardäre. Ob das allein aber reicht?

Jonathan Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus
Aus dem Englischen von Thomas Laugstien
Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 112 Seiten, 14,90 Euro

Mehr zum Thema