Sachbuch

Nerds übernehmen das riesige Börsengeschäft

Aktienhändler verfolgen an der Börse in Frankfurt am Main auf ihren Monitoren die Kursentwicklung (Aufnahme mit Zoomeffekt).
Frankfurter Börse: Der Markt im großen Stil wird immer undurchsichtiger und schneller. © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Paul Stänner · 02.08.2014
Der ursprüngliche Zweck der Börse, Unternehmern Kapital zur Verfügung zu stellen, scheint Vergangenheit. Jens Korte erzählt von ruchlosen Geldgeschäften und computergesteuerten Deals - und läutet unterhaltsam das Ende einer Epoche ein.
Der Titel "Rettet die Wall Street - Warum wir die Zocker brauchen", hat mit dem Buch überhaupt nichts zu tun. Offenbar hat sich - vom Stoff des Buches verführt - ein irre geleitetes Marketing-Genie des Verlages daran vergriffen, denn am Ende des Buch zeigt sich: die Wall Street ist kaum zu retten und Zocker braucht niemand.
"Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat die Börse einen grundlegenden Wandel erfahren. Sie ist geschwächt und missbraucht worden, und darin liegt eine Gefahr für uns alle, denn die Börse ist das Herz unseres Wirtschaftssystems. Nicht die Börse ist das Problem, wie besonders Europäer gern glauben, sondern das, was aus den Börsen heute geworden ist."
Zu sagen, nicht die Börse sei das Problem, sondern das, was man damit macht, erinnert ein wenig an die Argumentation bigotter Waffennarren, die immer wieder behaupten, nicht die Schusswaffen seien das Problem, sondern die Leute, die damit in Schulen um sich ballern. In diesem Sinne wäre auch die Börse nicht das Problem, sondern die Leute, die gierig nach immer mehr Geld schnappen. Als ob man das eine vom anderen trennen könne.
Ich habe in Kortes Buch zwei interessante Entdeckungen gemacht: Zum einen habe ich einen schönen Satz gelesen in dem Kapitel, in dem es um die Folgen der Finanzkrise von 2008 ging. Wegen der Börsenkräche mussten große Banken wie Citigroup, Goldman Sachs oder die Bank of America vom Steuerzahler gerettet wurden. Angeblich haben diese Institute ihre Rettungsgelder zurückgezahlt, doch:
"Der Gesamtschaden liegt viel höher als die blanken Rettungspakete - tatsächlich zahlen wir immer noch. Denn das billige Geld der Notenbanken heißt auch, dass die Zinsen für Kleinsparer, Pensionskassen und Lebensversicherer jahrelang extrem tief liegen. Gewinne privatisieren, und Schulden sozialisieren."
Kapitalismuskritik in wirtschaftsnahen Publikationen
Dass ist schon lange einer der Hauptvorwürfe der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die wurde jahrelang als linksradikal eingestuft und ihre Verteidiger mit der sofortigen intellektuellen Verbannung bestraft. Heute kann man diesen Satz von der strukturellen, staatsgetragenen Ungerechtigkeit des Kapitalismus in einer durchaus wirtschaftsnahen Publikation lesen: Zumindest die Theoriebildung, wenn schon nicht die Wirtschaftsgerechtigkeit, schreitet voran.
Ursprünglich suchten an der Börse Unternehmer Kapital für ihre Ideen. Doch längst sucht sich an den Börsen das Kapital seine Aufgaben. Und über diesen finanziellen Umschlagplatz liest man bei Korte Geschichten wie aus Hollywood-Filmen, Geschichten von den Exzessen superreicher Superegos, wie jenes Börsenmaklers, der für eine Siegesfeier einen David von Michelangelo in Eis nachbauen ließ, der für die Dauer der Party Wodka in Gläser pinkelte. Diejenigen, die ohnehin schon Millionen im Jahr verdienten, verbogen auch noch Gesetze und Bilanzen, um noch mehr Millionen zu machen.
Auf die schwindelerregenden Einkommen folgten ebensolche Crashes. Wie beim Enron-Konzern, der gemeinsame Sache mit der ihn überwachenden Buchprüfungsfirma machte.
"Das Ziel war es, den Aktienkurs immer höher zu treiben - wovon wiederum die Topmanager, die mit großzügigen Aktienpaketen entlohnt wurden, besonders profitierten. Mehrere Milliarden an Schulden und Verlusten tauchten nie offiziell in den Büchern auf."
Als die Manipulationen aufflogen, verloren 20.000 Mitarbeiter ihre Jobs und ihre Altersvorsorge, die sie in die Aktien ihrer Firma investiert hatten. OPM, "other peoples money", wurde der Schlachtruf, weil sich mit dem Geld anderer Leute sorgenfreier spekulieren lässt als mit dem eigenen. Der Handel blähte sich auf, Gewinne wurden sofort realisiert, die Schulden dagegen - aber wer interessierte sich schon für Schulden?
9-11, der Terroranschlag auf das World Trade Center. Jens Korte beschreibt den Tag aus dem eigenen Erleben, sein Arbeitsplatz wurde zerstört. Der Anschlag zog auch die Wall Street in Mitleidenschaft. Es schien nicht mehr klug, Handel mit Menschen an einem Ort zu betreiben, der so angreifbar war – und der computergesteuerte Handel versprach ohnehin größere Gewinne. Korte beschreibt in seinen Reportagen, wie riesige Rechenzentren aufgebaut wurden, in denen Algorithmen die Märkte durchforsten, in denen Käufe und Verkäufe getätigt werden in einem Tempo, bei dem es schon nicht mehr um Milli- sondern Nanosekunden geht. Bei der Gelegenheit habe ich meine zweite Neuentdeckung gemacht, den Ausdruck: "Quants".
"Die neuen Herren dieser Welt sind die Quants. Ihre Vertreter analysieren das Geschehen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten anhand mathematischer Modelle. Statt auf Erfahrung und Instinkt, wie traditionelle Trader, verlassen sie sich auf Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Früher haben die Wall-Street-Veteranen auf die Schlabber-T-Shirt-Jungs heruntergeschaut. Nerds eben, picklige Loser an ihren Computern. Heute sind sie gefragt."
Riesige Beträge ohne reale Entsprechung
Der Markt im großen Stil wird immer undurchsichtiger und schneller. Große Spieler schieben in Nanosekunden riesige Beträge hin und her, die ihrerseits riesige Beträge erzeugen, denen real nichts mehr entspricht.
"Mit Investitionen in Unternehmen, Staat oder Volkswirtschaft hat ihr tun wenig zu tun."
Cover: Jens Korte "Rettet die Wall Street. Warum wir die Zocker brauchen"
Jens Korte "Rettet die Wall Street. Warum wir die Zocker brauchen"© Orell-Füssli-Verlag
Abgesehen von den Investitionen in After-Work-Cocktails, wie Korte hinzufügt.
Der ursprüngliche Zweck der Börse, Unternehmern Kapital zur Verfügung zu stellen, scheint Vergangenheit. Korte spekuliert ein wenig über die möglichen neuen Optionen, Crowdfunding-Modelle oder ähnliches. Aber die Wucht und die Macht der milliardenschweren Börsen werden sie wohl kaum erreichen. Muss man die Börsen stärker kontrollieren? Auch das scheint nicht mehr möglich, sie finden schneller neue Verstecke und Schlupflöcher, als die Regulatoren neue Regularien.
Jens Korte hat in seinem Buch das Ende einer Epoche beschrieben, sehr farbig, sehr unterhaltsam, ein Buch für Kleinsparer, Bankenhasser und solche, die ihre Allgemeinbildung in Wirtschaftsfragen aufpolieren wollen. Am Ende schildert er, wie er in seiner New Yorker Lieblingsteestube die alerten Mittzwanziger an ihren Computern sitzen sieht, und wagt einen - vielleicht etwas romantischen - Ausblick:
"Wer weiß, dachte ich, vielleicht brüten die Jungs an ihren leuchtenden Bildschirmen gerade aus, wie die Finanzmärkte wieder zu dem werden, was sie sein sollten, ein Ort, an dem Sparer zu Investoren werden und an dem Kapital gesammelt wird, um neue Ideen zu verwirklichen."

Jens Korte: Rettet die Wall Street. Warum wir die Zocker brauchen
Unter Mitarbeit von Heike Buchter
Orell-Füssli-Verlag Zürich, März 2014
221 Seiten, 19,95 Euro