Sachbuch

Marktwirtschaft nach dem Mauerfall

Eine Dresdner Familie tauschte am 1. Juli 1990 in einer Sparkasse Ostmark gegen 2000 D-Mark.
Neues Land, neue Währung: eine Dresdner Familie tauschte am 1. Juli 1990 in einer Sparkasse Ostmark gegen 2000 D-Mark. © picture alliance / dpa
Von Eike Gebhardt · 16.10.2014
Als 1989 die Mauer fiel, begann eine ökonomische Neuordnung Europas. Philipp Ther analysiert die bis heute andauernden Veränderungen - von der neoliberalen Schocktherapie in Polen bis zu Angela Merkels Plädoyer für eine marktkonforme Demokratie.
Wer die Geschichte ignoriert, ist verdammt, sie zu wiederholen – doch wie schwer die vielfältigen Entwicklungen nach 89 zu deuten, geschweige sie zu einer Lehre zu verdichten sind, zeigt dieser faktenpralle Band in zugleich deprimierender und ermutigender Weise. Dass die ökonomischen, neoliberalistischen Neuordnungen in den Gesellschaften Osteuropas ganz unterschiedlich wirkten, lässt die Einsicht zu, dass es die eine reine, gottgefällige Wirtschaftsordnung nicht geben kann; die Verhältnisse sind nicht so.
Diese Verhältnisse fächert Ther mit eindrucksvoller Detailkenntnis auf - statistisch wie auch kulturhistorisch - und er reichert sie an mit eigenen Erfahrungen im wilden Osten, in Tschechien, Polen, in der Ukraine. Teilnehmende Beobachtung ist für Historiker ein eher ungewöhnlicher Ansatz, hier hilft er dramaturgisch durch die Faktenflut, wenngleich nicht durchweg klar ist, ob oder wie die Daten in Thers soziale Bühnenbilder münden.
Neoliberal mit Zuckerwatte
Warum etwa Polens Vorsprung in Europa hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle von Frauen "nur bedingt das Vermächtnis der Revolution" sei, sondern "sich aus der sozialen und kulturellen Dynamik der Transformation" ergab, hätte man gern etwas genauer gewusst. Aber auch als bloße Hypothesen sind Thers Ideen oftmals fruchtbar – sie suggerieren zumindest eine sozialpsychologische Erklärung der unterschiedlichen Entwicklungen auf dem alten Kontinent.
Der vorgebliche Sieg des Westens hieß ja durchaus nicht, man habe alles richtig gemacht. Zum Beispiel war der "dritte Weg", den Giddens, Blair & Schröder vorgaben, im Grunde auch nur neoliberal mit Zuckerwatte; der starke Staat blieb ja weithin bestehen, nun eben als Verbündeter der Wirtschaft – bis hin zu Merkels Plädoyer für eine "marktkonforme Demokratie". Vielmehr war "die Ökonomisierung des Freiheitsbegriffs (...) einer der Gründe, weshalb dieser in den neunziger Jahren eine schwindende Rolle im öffentlichen Diskurs spielte", beobachtete Ther etwa in Prag.
Erst die Ukraine habe die Europäer wieder wachgerüttelt
Freiheit aber war für die 89er nicht nur für den homo oeconomicus erkämpft worden, sie hatte einen viel umfassenderen, auch emotionalen Stellenwert – heute kaum noch nachvollziehbar, weil sie im Alltag so selbstverständlich geworden sei; erst die Ukraine habe die Europäer wieder wachgerüttelt. So betont Ther wohl zu Recht die "Humanressourcen", u.a. die "zivilgesellschaftlichen Strukturen", die zum Beispiel während der Maidan-Aufstände organisatorisch bei der Versorgung der Demonstranten zum Tragen kamen – eine "Ressource", die auf die Zukunft hoffen lasse. Auch wenn andere Faktoren fehlen ("Frieden, gesicherte Grenzen" und "ein funktionierendes Staatswesen sowie minimaler Wohlstand") erscheint eine neoliberale Schocktherapie wie in Polen hier wenig ratsam.
Hinter jeder Wirtschaftstheorie steht ein idealisiertes Menschenbild – vom rein rational handelnden homo oeconomicus bis hin zu "Fordern und Fördern". Diese anthropologischen Scheinkonstanten – und ihre sozialen Folgen - zu thematisieren, ist nicht das geringste Verdienst dieser empirischen Mentalitätsgeschichte.

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent
Suhrkamp, Berlin 2014
26,95 Euro, 421 Seiten

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