Sachbuch

Kurz bevor die Welt brennt

Von Katrin Schumacher · 06.05.2014
Die Welt taumelt, und eine kleine Schar trifft sich im belgischen Strandbad. Wie Dichter um Stefan Zweig und Joseph Roth einen letzten gemeinsamen Sommer am Wasser verbringen, davon erzählt Volker Weidermann.
Die braunrote Backsteinpromenade altert in Hässlichkeit. Nur vereinzelt blitzt einem das ein oder andere Jugendstilornament an einer Fassade entgegen. Oder der Rest eines weißen Belle-Époque-Gebäudes. Die Appartementburgen ragen direkt am Strand in den Himmel, ein Kirmesschlager folgt dem anderen aus den Türöffnungen der lieblosen Glas-Stahl-Wintergartencafés, in denen die Wirte den Bierschaum mit Holzspateln vom Glas abstreifen – wenigstens das ist geblieben vom alten Ostende. Kaum zu glauben, dass das flämische Badestädtchen vor knapp 80 Jahren noch in mondänem Liebreiz aufging.
Und doch, in Volker Weidermanns Buch ist er noch einmal zu erleben, der "große Blick in den Sommer", wie der Dichter Stefan Zweig von seiner Loggia auf die Nordsee hinaus sinniert. 1914 urlaubt dieser zum ersten Mal in Ostende, auf Empfehlung des flämischen Kollegen Émile Verhaeren. Im Sommer 1914 steht der Weltenbrand bevor, doch Stefan Zweig fühlt den Ausbruch des Krieges wie das Gros seiner Landsleute als befreienden Moment.
Weshalb eigentlich nur bis Ostende?
Als die Welt 1936 zum wiederholten Male unterzugehen droht und Zweig wieder in Ostende aufs Meer blickt, hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Es ist eine Gemeinschaft der Fliehenden, die sich hier findet. Im historischen Rückspiegel betrachtet muss man zwangsläufig fragen: Weshalb eigentlich nur bis Ostende? Es ist ein Transitraum, den Volker Weidermann, der Feuilletonchef der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", hier aufmacht, und wie in seinen vorherigen Büchern zieht er kundig, beredt und mit der Kunst, Atmosphären zu erzeugen in die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hinein.
Stichworte genügen, um die Geschehnisse zu temperieren: "Eiscreme, Sonnenschirme, Trägheit, Wind und bunte Bretterbuden." Im Zentrum der Sommerfrische stehen Freundschaften und Liebesverhältnisse, angereichert durch den Blick auf das tägliche politische Pulverfass, es verweben sich fiktive Dialogmomente mit recherchierten Details. Immer wieder setzt sich der Autor zwischen die Dichter ins Café Flore. Hermann Kesten frotzelt da mit Joseph Roth über den Schriftstellerbetrieb, Ernst Toller schimpft über Thomas Mann, Liqueur de Verveine fließt und Tollers Frau Christiane strickt wie eine Besessene.
Man schreibt und trinkt um die Wette
Fixsterne der kleinen Schar in Ostende sind der arrivierte Bonvivant Stefan Zweig und der haltlos-geniale Trinkerdichter Joseph Roth. Zweig kümmert sich um den zwölf Jahre Jüngeren, kleidet ihn ein, unterhält und ernährt ihn, während Roth den großen Zweig sowohl bewundert als auch dessen Gönnertum hasst. Irmgard Keun reist an aus dem Land, in dem bereits die Bücher verbrannt werden. Und es beginnt eine alkoholisierte Amour fou mit Roth, die erst zwei Jahre später in Paris endet. Dazwischen schreibt und trinkt man um die Wette.
Weidermann erzählt von einer ebenso libidinös wie politisch aufgeladenen Gemengelage im Sommer 1936. Und reiht sich zwar ein in die Riege der Bücher mit Jahreszahlen im Titel, die derzeit Konjunktur haben. Doch zieht er erzählerische Linien in Vergangenheiten und Zukünfte - der Sommer 1936 dient ihm lediglich als Brennglas. Unter diesem liegen berühmte Dichter ebenso wie beinahe vergessene, die hier allesamt mit Sympathie betrachtet zum Leuchten gebracht werden. Der letzte Sommer in Ostende bevor die Welt brennt: In seiner Beschreibung wird nicht zuletzt Lektürelust geweckt auf die Texte, die dort im überschatteten Sonnenschein entstandenen sind.

Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014
160 Seiten, 17,99 Euro

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