Sachbuch

Internet-Euphorie eines Zufrühgeborenen

Von Vera Linß · 23.01.2014
Michel Serres ist Philosoph und mittlerweile 83 Jahre alt. Die Überwachungsskandale haben ihn offenbar unbeeindruckt gelassen. In seinem Büchlein preist er das Internet über den grünen Klee, weil es mit seiner Allverfügbarkeit von Wissen den Kopf frei mache für die wahren geistigen und gesellschaftlichen Herausforderungen.
Um es vorweg zu sagen: Dieses euphorische Büchlein verwirrt erst einmal, denn es passt so gar nicht in den Zeitgeist. Längst hat sich Ernüchterung breit gemacht angesichts der Verheißungen der digitalen Welt. Michael Serres zeigt sich davon jedoch komplett unbeeindruckt. Er hebt das Internet dermaßen in den Himmel, dass man sich nur wundern kann. Zwar hat er seine Lobschrift noch vor PRISM und TEMPORA verfasst. Das erklärt seine idealistische Sichtweise aber nicht.
Auch ohne den NSA-Überwachungsskandal hätte er sehen können, wie wenig digitale Technologien per se gesellschaftliche Probleme zu lösen vermögen. Über die Kehrseiten der Digitalisierung wird schließlich seit Jahren diskutiert. Das alles aber scheint der Philosophieprofessor an der Sorbonne und der Stanford University nicht mitbekommen zu haben oder er ignoriert es geflissentlich.
Allerdings hat das für Michael Serres einen entscheidenden Vorteil. Mit seiner Utopie von den Möglichkeiten der digitalen Vernetzung kann er bei Punkt Null loslegen, unbelastet von bereits bestehenden Debatten. Ausgangspunkt ist seine These, dass aufgrund der Digitalisierung gesamte Leben „zu erneuern“ und „erst noch zu erfinden ist“. Als Träger dieses Prozesses sieht er die „Kleinen Däumlinge“, die digital natives, die mit ihren Daumen über die Tastatur flitzen.
Kleine Däumlinge ohne Köpfe
Diese Generation – das beschreibt Serres treffend – lebt in einer völlig anderen Erfahrungswelt als noch ihre Eltern. Krieg und Hunger haben die meisten nie erlebt, religiöse Zugehörigkeiten und klassische soziale Bande sind zweitrangig geworden und das Individuum in den Mittelpunkt gerückt. Vor allem aber – und das ist die neue Qualität – sind die Däumlinge „enthauptete“ Wesen. So wie einst der erste Bischof von Paris, der heilige Dionysius, seinen von den Römern abgeschlagenen Kopf in den Händen hielt und weiterlebte, so haben sie ihren Kopf ausgelagert in ihre Notebooks.
Nicht umsonst bemüht der Philosoph den Vergleich mit einem Heiligen. Denn die Qualität, ein Wunder zu erschaffen, schreibt er auch dem Internet und seinen Nutzern zu. Weil im Netz heutzutage alle Informationen jederzeit erhältlich seien, entstünde „eine neue Autonomie des Verstandes“. Denn nun sei der Kopf unbelastet vom Wissenserwerb und könne jene Neuronen aktivieren, die erfinderisch machen, schwärmt Serres. So fraglich diese Annahme ist, so wenig untermauert er sie oder knüpft sie an konkrete gesellschaftliche Bedingungen. „Erfindet euch neu“ – bei dieser hehren Aufforderung an die Jugend bleibt es denn auch.
Serres räumt ein, dass er, der 83-Jährige, selbst gern als Däumling das Leben neu erfinden würde. Die Vermutung liegt nahe, dass ihn wohl eher diese Sehnsucht, als eine durchdachte Idee zu seinem Buch getrieben hat. Ein bisschen mehr hätte man dann aber doch erwartet. Immerhin verknüpft der Universitätsprofessor seine Utopie mit der berechtigten Kritik an unserem Bildungswesen. Dass mit dem Internet jahrhundertealte Lehr-Institutionen überholt sind, die – wie er so schön schreibt – auf der Basis der „Inkompetenzvermutung“ Wissen vermitteln, – damit hat er Recht, wie schon etliche vor ihm.

Michel Serres: Erfindet euch neu! Liebeserklärung an die vernetzte Generation
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
Suhrkamp, Berlin 2013
77 Seiten, 8 Euro