Sachbuch

Gespenstischer Neuanfang

Am Morgen des 10. September 1952 wurde im kleinen Empfangssaal des Luxemburger Stadthauses das deutsch-israelische Wiedergutmachungsabkommen von Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem israelischen Außenminister Moshe Sharett unterzeichnet. Links die israelische Delegation (von vorne): G. Ainar, Angehöriger des israelischen Außenministeriums, Außenminister Moshe Sharett, Präsidiumsmitglied der "Conference on Jewish Material Claims against Germany" Nahum Goldmann, D.A. Amir, israelischer Gesandter in Haag (verdeckt), und E. Natan vom israelischen Außenministerium. Rechts die deutsche Delegation (von vorne): Dr. Frohwein, Professor Dr. Franz Böhm (verdeckt), Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatssekretär Professor Walter Hallstein und der SPD-Bundestagsabgeordnete Altmaier.
Die Delegationen Israels und der BRD bei der Unterzeichnung des sogenannten Wiedergutmachungsabkommens. © picture alliance / dpa
Von Carsten Hueck · 20.03.2015
Wie versteinert treffen die Delegationen aufeinander. Kein Wort fällt, kein Handschlag. In seinem Buch zeichnet der Historiker Dan Diner die Unterzeichnung des "Wiedergutmachungsabkommens" zwischen Israel und der BRD nach und zeigt dessen politischen Dimensionen auf.
Mehrmals täglich überqueren Flugzeuge das Mittelmeer, um Deutsche nach Israel und Israelis nach Deutschland zu transportieren. Die Kontakte beider Länder sind vielfältig und alltäglich – auf politischer, wissenschaftlicher, ökonomischer und kultureller Ebene. Da mag es verwundern, wie bemüht hierzulande mit Veranstaltungen und Festakten gefeiert wird, dass die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten in ihr fünfzigstes Jahr gehen.
Wie wenig selbstverständlich das tatsächlich ist, verdeutlicht ein Buch des Historikers Dan Diner. "Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage" ruft den geschichtlichen Moment in Erinnerung, der nach der Shoah einen Neuanfang in den deutsch-jüdischen Beziehungen markierte, vor allem aber auch konstitutiv wurde für ein verändertes Selbstverständnis der beiden staatlichen Gemeinwesen:
Das Abkommen sichert die Existenz des jungen jüdischen Staats
Am 10. September 1952 unterzeichnen Vertreter Israels und der Bundesrepublik in Luxemburg ein Abkommen über Restitution und Entschädigung, das umgangssprachlich sogenannte Wiedergutmachungsabkommen.
Die BRD verpflichtete sich, einen Ausgleich für materielle Schäden zu leisten, die Juden durch Nazideutschland zugefügt worden waren – durch Lieferung von Exportgütern, Dienstleistungen und Zahlungen an Israel. Der junge jüdischen Staat konnte damit seine Existenz sichern.
Unter dem Eindruck des millionenfachen Völkermordes
Diner beschreibt plastisch und detailreich die Atmosphäre am Tag der Unterzeichnung: Frostig ist sie, geradezu gespenstisch. Beide Staaten stehen noch unmittelbar unter dem Eindruck des millionenfachen Völkermordes an den europäischen Juden, der erst durch die Kapitulation des Deutschen Reichs sieben Jahre zuvor beendet worden war. Den einzelnen deutschen Delegationsmitgliedern, ehemaligen Nazigegnern, ist ihr Verhalten im Dritten Reich nicht vorzuwerfen. In den Augen der Israelis sind sie dennoch Vertreter des Tätervolkes.
Wortlos treffen die Delegationen an den gegenüberliegenden Seiten eines Tisches aufeinander. Kein Wort fällt, kein Handschlag, keine gemeinsame Erklärung. Für Diner eine "Choreografie der Distanz".
Der israelische Reisepass galt nicht für die BRD
Den monatelangen Verhandlungen zwischen beiden Delegationen waren leidenschaftliche Debatten im israelischen Parlament vorausgegangen. Ein Frevel sei es, überhaupt mit Deutschen zu reden, erst recht "Blutgeld" von ihnen anzunehmen, erboste sich der spätere Premierminister Menachem Begin. Es gab eine Übereinkunft, dass alles Deutsche zu meiden sei. Der israelische Reisepass galt nicht für die Bundesrepublik. Das Land wurde von Israel boykottiert, es war offiziell eine No-go-Area für Juden.
Die Umwandlung religiöser in nationale Energie
Diner arbeitet heraus, wir stark die innerjüdische Diskussion bis dahin von theologischen Traditionen beeinflusst war. Die Bebilderung der Einwände gegen Verhandlungen mit Deutschland speiste sich aus Thora und Talmud. Deutschland wurde mit Amalek verglichen, der Verkörperung ewiger Judenfeindschaft. Mit knapper Mehrheit gelang es jedoch der Regierung Ben Gurion schließlich, ein Mandat für Verhandlungen zu erhalten. Diner erkennt darin die Überführung göttlicher in staatliche Autorität, die Umwandlung religiöser in nationale Energie, die Anerkennung der Tatsache, dass Juden nun ein politisches Kollektiv bildeten. Staatsraison setzte sich gegen Tradition durch.
Und auch Deutschland, das die "Wiedergutmachung" nicht als Bringschuld, sondern als Eigenverpflichtung verstand, etablierte mit dem Luxemburger Abkommen eine neue politische Moral, die bis heute nachwirkt.
Wie durch eine Lupe
Dan Diner schildert die Dimension dieses Abkommens – für ihn der eigentliche Beginn deutsch-israelischer Beziehungen –, indem er den Tag der Unterzeichnung wie durch eine Lupe betrachtet und veranschaulicht, wie sehr er auf Vergangenheit und Zukunft beider Kollektive verweist. Anhand dieser Studie kann man auch lernen, wie abhängig Politik von kulturellen und historischen Tiefenschichten, Emotionen und Symbolen ist.

Dan Diner: "Rituelle Distanz - Israels deutsche Frage"
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015
170 Seiten, 19,99 Euro

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