Sachbuch

Geschichtsschreibung als Erlebnis

Der Historiker Heinrich August Winkler
Jetzt fehlt nur noch der vierte Teil von Winklers Großprojekt "Geschichte des Westens". © picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler
Von Harro Zimmermann · 19.09.2014
Koreakrieg, Studentenprotest, Wiedervereinigung: Dicht und kenntnisreich wie gewohnt erzählt Heinrich August Winkler die Jahre von 1946 bis 1991. Sein dritter Band der "Geschichte des Westens" ist ein lohnendes Bildungserlebnis.
Seit dem großen Forschungseinsatz des Berliner Historikers Heinrich August Winkler reden wir nicht mehr vom deutschen "Sonderweg" in der Historie Europas und der Welt, sondern von einer Geschichte des Westens insgesamt. Im Jahre 2000 hatte Winkler in seinem Buch "Der lange Weg nach Westen" geschildert, auf welchen Umwegen die verspätete deutsche Nation endlich zur politischen Kultur des Westens fand, in seiner jetzt drei-, bald vierbändigen "Geschichte des Westens" geht es gewissermaßen um den Weg des Westens zu sich selbst.
Im normativen Zentrum des Riesenwerkes steht das "normative Projekt des Westens", also die lange Tradition von Menschenrechten, Gewaltenteilung und Herrschaft des Rechts. Aus jüdischen, antiken und christlichen Wurzeln entsprang das Herkommen der Demokratie, erwuchsen unsere modernen Vorstellungen von Individuum und Recht, von Religion und Staat, die Trennung von geistlicher und weltlicher Macht. Die politischen Staaten des Westens haben sehr verschiedene Sonderwege genommen, um diesem normativen Projekt zur Durchsetzung zu verhelfen. Unter zahllosen Ein- und Umbrüchen, unter Kriegen und Katastrophen ist der Westen in den letzten nahezu 1000 Jahren seiner Tradition mehr oder weniger treu geblieben.
Bewegte Zeiten von 1946 bis 1991
Im dritten und vorletzten Band seines Großunternehmens arbeitet Winkler weiter an seiner Problem- und Diskursgeschichte des Westens, ohne jemals den Anspruch einer "histoire totale" zu erheben. Dieser Band befasst sich mit der Zeit von 1946 bis 1991, mit dem Beginn des Kalten Krieges bis hin zu dessen (vorläufigem) Ende. Es ist die Zeit des erstarrten Ost-Westkonfliktes bei relativer Geschlossenheit des transatlantischen Westens. Während dieser Jahrzehnte lösen sich die Kolonien in der Dritten Welt von ihren Herrschermächten, führen der Koreakrieg und die Kuba-Krise die Völkergemeinschaft an den Rand neuerlicher Großkonflikte, ereignen sich der Vietnamkrieg und die globalen Studentenunruhen, der Prager Frühling, die NATO-Nachrüstungsverhandlungen, die Dissidenzentwicklung in Osteuropa und das Zerbröseln der Sowjetunion, schließlich der Fall der Berliner Mauer.
Wie gewohnt, erzählt Winkler außerordentlich dicht und kenntnisreich, mit meisterlichem Überblick, und stark orientiert an der politischen Ereignisgeschichte. Der Leser kann eine transatlantische Historiografie auf hohem darstellerischem Niveau genießen. Die deutsche Geschichtsschreibung kehrt mit diesem Historiker zur alten Tugend der erzählerischen Problematisierung zurück, die Historie kann, wenn nicht zur Lehrmeisterin des Lebens, so doch zum Bildungserlebnis werden.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall
C.H. Beck Verlag, München 2014
1258 Seiten, 39,95 Euro

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