Sachbuch

Für den Verzicht

Von Stephan Hilsberg · 06.04.2014
Größenwahn und Maßlosigkeit sind Meinhard Miegel verhasst. Auch in seinem neuen Buch übt der Wirtschaftswissenschaftler scharfe Wachstumskritik. Allerdings scheint es, als leide er selbst oder zumindest sein Buch ebenfalls an jener Krankheit, die er in der Gesellschaft diagnostiziert.
Die deutsche, die europäische, ja die westliche Gesellschaft insgesamt leide an Größenwahn und sei darüber in eine Krise geraten. Denn erstmals in der Geschichte verfüge die Menschheit über die finanziellen und technischen Mittel, aus einer durchaus natürlichen Selbstüberschätzung heraus alles und jedes auf die Spitze zu treiben.
Meinhard Miegel analysiert diese Krise nicht, er bietet Kulturkritik an, geprägt von tiefer Skepsis, aufgewühlt von einem diffusen Unwohlsein, dass diese Gesellschaft auf einem schlechten Weg sei, indem sie sich selbst überfordere. Ein fehlgeleitetes christliches Selbstverständnis verleite zu völlig unrealistischen Zielen, ständig babylonische Türme errichten zu wollen. Dabei jedoch würden die Lebensgrundlagen aller Menschen zerstört.
Das müsse sich ändern, aber wie das weiß der Sozialwissenschaftler nicht zu erklären. Phantasie und Kreativität sind seine Sache nicht. Er beglückt mit Gedanken, Urteilen und Selbstreflexion. Zitiert er Autoren, dann einzig um seine eigenen, ganz persönlichen Ansichten zu bestätigen.
"Sie haben nichts anderes kennengelernt"
Miegel legt mit seiner Kulturkritik seine Weltanschauung offen. Er schrieb kein Sachbuch, das einen Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet, sondern einen Essay, also eine Art Betrachtung, die den Professor und Zukunftsforscher nicht wissenschaftlich verpflichtet, nicht in einen Diskurs zwingt. Es scheint, als leide unter jener Krankheit, die er diagnostiziert, unter Hybris, unter hochmütiger Selbstüberschätzung der Autor oder zumindest sein Buch am Ende selbst.
Er ist ein konservativer Denker, ein Christdemokrat, kein Neomarxist, weshalb er die Krisensymptome nicht allein auf den Kapitalismus zurückführt. Vielmehr geht es um eine:
"Krise der westlichen Kultur, die mit Begriffen wie Kapitalismus (….) keineswegs hinreichend erfasst ist. (Dieser) ist vielmehr nur eine Erscheinungsform der viel umfangreicheren westlichen Kultur (…) Die Essenz dieser Kultur ist der allem Anschein nach fehlgeschlagene Versuch, eine ursprünglich im Jenseitigen angesiedelte Idee, nämlich die Gottesidee völliger Unbegrenztheit diesseitig zu wenden."
Wenn Menschen sich selbst zu Gott machen, müsse das natürlich schiefgehen, denn alles Tun sei in der Folge auf Exzess angelegt.
"Bauten, Mobilität, Arbeit, Sport, Vergnügen, Technik, Kommunikation, Schulden und .. staatliche Aktivitäten. …. Das Ziel interessiert nicht. (…) Und die meisten ziehen mit. (...) Sie haben nichts anderes kennengelernt."
Der Euro als Frühgeburt
Die Selbstvergottung des Westens paare sich also mit Unwissen. Und dies will Meinhard Miegel an vielen Beispielen aus der Wirtschafts- und Arbeitswelt, aus Bildung und Sport, an Globalisierung, Sozialstaat und technischem Fortschritt belegen. Er lässt nichts aus, keinen Firmenzusammenbruch, nicht Stuttgart 21, nicht die täglichen Staus auf unseren Autobahnen. Natürlich muss auch die europäische Einigung herhalten, und der Euro, den er für eine Frühgeburt hält. Die Vision der Vereinigten Staaten von Europa macht er runter, hält die europäische Integration für überzogen und will lieber die nationalen Volkswirtschaften bewahrt wissen. Schuld an der griechischen oder portugiesischen Schuldenmisere sei die EU in Brüssel - was zwar wohlfeil, dafür aber falsch ist.
Meinrad Miegel hinterlässt den Leser einigermaßen ratlos. Es reicht ihm, die Hybris aufzuspüren und sich selbst zu bestätigen. Er bleibt aber darin vage, wie der angeblichen Krankheit beizukommen sei. Da las sich "Empört Euch", der großartige Essay des französischen Philosophen Stéphane Hessel, ganz anders. Dieser wollte dem allgemeinen Unbehagen einen Ausweg aufzeigen.
Miegels Kulturkritik mag das angeschlagene Lebensgefühl eines Teils des heutigen Bürgertums ausdrücken. Dem ging eine alte Welt unter, deren Uhren irgendwann vor 1989 stehen geblieben waren, als noch es noch keinen Euro gab und eine kommunistische Apokalypse noch ausstand. Daraus entwickelte sich ein Skeptizismus, der nationalen Halt sucht, wie ihn der Niederländer Geert Wilders oder die Französin Marine Le Pen vor den Europawahlen populär machen wollen. Der Deutsche Meinhard Miegel sollte sich dafür zu schade sein.

Meinhard Miegel: Hybris. Die überforderte Gesellschaft
Propyläen Verlag, Berlin 2014
320 Seiten, 22,99 Euro

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