Sachbuch

Eine Art People-Magazin des Bundestags

Von Arno Orzessek  · 10.03.2014
Roger Willemsen hat den Parlamentariern zugehört, wie lange keiner mehr. Und dabei hat er ausgehalten und aufgeschrieben, wie diskutiert, abgesprochen, geschauspielert und taktiert wird: eine Suche, nach der parlamentarischen Aufrichtigkeit.
Roger Willemsen wurde oft als kluger Kopf gefeiert, dieses Mal aber verdient auch sein Sitzfleisch Lob. Wer je versucht hat, eine komplette Bundestagsdebatte bei Phoenix zu verfolgen, der ahnt, dass es mönchischer Geduld bedarf, ein ganzes Jahr im Parlament zu überstehen. Denn es gibt im Bundestag (fast) keine echten, ergebnisoffenen Debatten, sondern nur deren gekünstelt-kameragerechte Vortäuschung, sofern die Redner überhaupt über parteipolitische Grabenkämpfe hinausgehen.
Typisch die Sitzung am 28. Februar 2013: Die Politiker, so Willemsen, "kommen aus den Ausschüssen, hauen sich das dort Gesagte effekthascherisch noch einmal um die Ohren und verlassen, kaum ist die Simulation einer entscheidenden Debatte vorbei, den Raum."
Weil das bekannt ist, ist "Das Hohe Haus" die Chronik einer vorhersehbaren Enttäuschung - ohne brisante neue Erkenntnisse. Allerdings ist Willemsen darauf auch gar nicht aus. Er sitzt bloß da, hört zu, beobachtet, denkt nach und beschreibt die ritualisierten Ereignisse aus der "'Bürger'-Perspektive". Die aber ist ungnädig. In den Parlamentsreden überwiegt laut Willemsen "das Prinzip der Verachtung". Er beobachtet den "Triumph des Behauptungswillens", der sich darin erschöpft, den Kontrahenten "in seiner Nichtigkeit zu enthüllen". Umso stärker empfindet es Willemsen "als Verrat, wenn die Kombattanten gleich nach dem Angriff wieder beieinander stehen, lachen und unzertrennlich wirken wie Freunde." Der Bundestag: eine abgefeimte Show.
Gute Noten für Norbert Lammert und Gregor Gysi
Natürlich geht es oft um Rhetorik. Gute Noten erteilt Willemsen Bundestagspräsident Norbert Lammert und Gregor Gysi von der Links-Partei: "Er ist der Typus des Parlamentariers, der das Richtige immer wieder vergeblich gesagt hat. Das hat seine Intelligenz geschärft." Dagegen regt es Willemsen auf, wenn Angela Merkel jegliche Redekunst mit Füßen tritt, und zwar aus Kalkül, nicht aus Unfähigkeit. Die Kanzlerin, ätzt er, "hält bloß scheinbar den Sprechverkehr aufrecht, bewegt die Saalluft durch Einatmen-Ausatmen. Im Grunde sabotiert sie das Kommunikationsmodell." Ein typischer Merkel-Satz? Laut Peer Steinbrück geht der so: "Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis in Europa." Indessen hört Willemsen auch Hinterbänklern zu, freut sich über gute Sprüche, lächelt mit den jungen Leuten auf der Tribüne, als unten verlautbart wird: "Wir wollen Verkehr, in jeder Form." Dank der vielen Namen und ausgesuchten Zitate ist "Das Hohe Haus" auch eine Art People-Magazin des Bundestags.
Willemsen verschweigt nicht, was ihm gefällt: menschliche Regungen im Plenum, kapitalismuskritische Grundsatzreferate, kluge Selbstreflexionen, Ehrlichkeit, Humor. Insgesamt aber ist "Das Hohe Haus" ein Buch in Moll. Der Bürger W. fühlt sich von den Parlamentariern am Pult nicht repräsentiert und wirft ihnen vor, mehr demokratische Ideale zu verraten als zu verwirklichen. Dabei weiß Willemsen: "Die Parlamentsrede kommt aus einer anderen Zeit." Stammen vielleicht auch seine eigenen Ansprüche an das Parlament als Herz der Demokratie aus einer anderen Zeit? Ein politischer Realist mit Sinn für die funktionale Ausdifferenziertheit des Systems wäre weniger enttäuscht als Willemsen - hätte dafür aber kaum derart gutes Sitzfleisch bewiesen.

Roger Willemsen: Das Hohe Haus - Ein Jahr im Parlament
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014
400 Seiten; 19,99 Euro

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