Sachbuch

Die Verantwortung der Westfirmen

Blick durch ein vergittertes Fenster einer Gefängniszelle im Frauengefängnis Stollberg - Hoheneck, aufgenommen im Dezember 1989. In Hoheneck waren kriminelle und politische Gefangene untergebracht. Mit der politischen Wende im Herbst 1989 in der DDR forderten in vielen Strafvollzugsanstalten der DDR Häftlinge ihre Rechte ein.
Frauengefängnis Hoheneck: Hier waren kriminelle und politische Gefangene untergebracht, die auch für den Westen arbeiten mussten. © picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Thieme
Von Pieke Biermann · 26.03.2014
Waren im Wert von etwa 200 Millionen D-Mark haben DDR-Häftlinge in den 80er-Jahren jährlich für Unternehmen im Westen produziert - unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen. Kaum eine Westfirma will davon aber gewusst haben.
Ulbrichts Plan, die DDR-Wirtschaft "störfrei", nämlich vom Westen unabhängig zu machen, war trotz der Mauer kein Sieg vergönnt. Die Verflechtung der beiden deutschen Ökonomien wurde durch die Entspannungspolitik der 70er-Jahre sogar noch enger. "Wandel durch Handel" ist in Kalten Kriegen ein pragmatisches Konzept und macht selbst Menschenhandel zum humanitären Akt, zumindest für freigekaufte Häftlinge und ihre Angehörigen – in diesem Fall knapp 34.000, die dem SED-Regime geschätzte 3,5 Milliarden DM (West) eingebracht haben.
In der Ära Honecker ließen immer mehr Unternehmen aus dem "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" Einzelteile oder ganze Produktpaletten zu Dumpinglöhnen Ost herstellen: Industriebetriebe wie Handelsketten, feine Firmen wie Billigheimer. Ältere Westdeutsche erinnern sich an heiteres Raten, welches ihrer Billy-Regalbretter wohl von VEB-Kräften gefertigt oder welches Buch aus DKP-fernen Verlagen nicht nur "drüben“ gesetzt, gedruckt, gebunden, sondern auch realsozialistisch "korrekturgelesen" worden war.
Die bisher umfassendste Forschungsarbeit
Seit Studien ab 2003 aufdeckten, dass viele dieser Waren auch von Häftlingen produziert wurden, ist die Sache nicht mehr so heiter. Tobias Wunschik, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU), hat dazu die bisher umfassendste Forschungsarbeit vorgelegt. Nach seiner Schätzung kamen in den 80er-Jahren allein durch "Knastware" etwa 200 Millionen DM jährlich vom "Klassenfeind" in die DDR.
Das Skandalon ist nicht, dass Häftlinge daran mitgearbeitet haben – sie sollen gern, arbeiten, wenn sie das wollen. Skandalös ist zum einen, dass bis heute kaum eine Westfirma davon gewusst haben will – denn es wirft die Frage nach Entschädigungen auf –, und zum anderen, dass auch politische Häftlinge eingesetzt wurden – zwangsweise, zu noch mieseren Löhnen und oft unter Gefahr für Leib und Leben. Wunschik belegt das an drei DDR-Knästen mit harten Zahlen und vielen Zeugenaussagen. Er referiert den Forschungsstand und benennt auch die Lücken – etwa fehlende Arbeitsnachweise vor 1970, Grundlage für Entschädigungsverfahren.
West-Handel in den Köpfen der Ost-Planwirtschaftler
Ein makabres Beispiel zeigt, ganz nebenbei, wie viel Wandel der West-Handel in den Köpfen der Ost-Planwirtschaftler bewirkt hat. Die schlossen Mitte der 80er-Jahre ungerührt zur Perfidie kapitalistischer Termingeschäftspekulation auf: Als wegen AIDS die Blutkonserven im Westen knapp wurden, verhökerten sie ungerührt Blut"spenden" aus einer Haftanstalt über Schweizer Kanäle ans Bayerische Rote Kreuz. Mit West-Etiketten, unkorrekten Quellenangaben, ungetestet und trotz des Plasmamangels im eigenen Land.
Gut 360 Seiten harten Stoff hat der Historiker in einem Dreivierteljahr recherchiert. Aber vielleicht hätten er oder die BStU oder der Verlag sich doch etwas mehr Zeit nehmen sollen, um daraus ein etwas flüssiger lesbares Buch zu machen. So erinnern die vielen kleinen Zahlen und die Fußnotenberge auf jeder Seite an den Akademikerspott: Der eigene Satz ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Zitaten, und der Text wirkt wie eine von Plagiatspanik überschattete Dissertation. Das ist schade. Denn es ist wichtiger Stoff, nicht nur für die auf Entschädigung hoffenden Betroffenen, sondern für die Öffentlichkeit, die darüber mitreden können sollte.

Tobias Wunschik: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989)
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2014
363 Seiten, 29,99 EUR

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