Sachbuch

Die totale Selbstvermessung

Ein kleiner Computer am Handgelenk zeigt die Daten der Selbstvermessung.
Messen, dokumentieren, optimieren - ein kleiner Computer am Handgelenk zeichnet alle Daten auf. © Deutschlandradio Kultur
Von Vera Linß · 09.07.2014
Jeder Herzschlag, jeder Schritt, sogar jede Laune - mit Hilfe digitaler Geräte wird alles protokolliert. Lifelogging nennt sich der Trend, den Stefan Selke in seinem gleichnamigen Buch beschreibt - und vor dessen Auswirkungen er eindringlich warnt.
Der Zeitpunkt für diese Buchveröffentlichung scheint gut gewählt. Noch steckt Lifelogging in den Kinderschuhen. Dieser noch junge Trend aus den Laboren von Universitäten und Internet-Giganten war in den letzten Jahren vor allem etwas für Techniknerds, die spielerisch ihr Alltagsverhalten rund um die Uhr mit Hilfe kleiner digitaler Geräte dokumentieren. Doch was geschieht, wenn die Anwendungen so ausgereift sind, dass aus der Nische Mainstream wird und bald alle ihren Herzschlag, jede Bewegung und Laune protokollieren und die Daten dann ins Netz stellen? Letzte Chance also für eine Warnung vor der totalen gläsernen Gesellschaft, die Stefan Selke kommen sieht für den Fall, dass Lifelogging zum Massenphänomen wird.
Um das zu verhindern, entlarvt der Soziologe die digitale Selbstvermessung als leeres Heilsversprechen. Das Problem: So richtig sicher ist sich der Wissenschaftler nicht, ob der Siegeszug von Schrittzählern und Vitalitätssensoren noch aufzuhalten ist. In seine nüchterne Analyse mischt er darum immer wieder Ausblicke auf eine Gesellschaft, in der jeder sich selbst und alle sich gegenseitig überwachen - eine Apokalypse, die er immer wieder als unvermeidlich an die Wand malt. Das verwirrt und lässt den Leser auch oft ratlos zurück.
Vorläufer beim US-Militär
Dabei ist der Ansatz des Soziologen, der als Professor für "Gesellschaftlichen Wandel" an der Hochschule Furtwangen lehrt, gut. Denn er leistet durchaus wichtige Aufklärungsarbeit. Schon in den 1940er-Jahren dachten Theoretiker wie Marshall McLuhan darüber nach, wie Technik dabei helfen kann, sich und seinen eigenen Körper zu optimieren, als wäre dies der Sinn des Lebens. An diese Überlegungen haben die Erfinder des Lifeloggings angeknüpft, unterstützt vom amerikanischen Militär, das ein strategisches Interesse daran hatte, seine Soldaten mit Sensoren auszustatten.
Inzwischen ist die Vielfalt an Apps, Kameras und Software groß, wie Selke überblicksartig zeigt. Längst geht es nicht mehr nur darum, dass einige Körperfetischisten an sich rumdoktern. Die AOK Nordwest etwa hat erkannt, wie gut sich ihre Mitglieder mit Lifelogging managen lassen und schlägt ihnen vor, die eigenen Vitaldaten auf einer Rangliste zu vergleichen. "Human Tracking" dagegen ermöglicht die Verfolgung von Lebewesen aufgrund ihrer Bewegungsdaten. Schon bietet "LifeServiceKids" besorgten Eltern die Handyortung von Kindern an.
Aus der Fülle dieser Beispiele schließt Stefan Selke, dass digitale Selbstvermessung bald schon gesellschaftliche Norm wird. Allerdings macht er diese Horrorvorstellung immer nur an Einzelfällen fest und so erschließt sich nicht völlig, warum es auch für uns alle so kommen sollte. Das ist schade.
Genauso wie seine möglichen Gegenstrategien vage klingen: Mal den Computer ausschalten oder Tagebuch auf Papier führen, sind die einzigen konkreten Vorschläge, die der Soziologe anbietet. Zurück bleibt deshalb vor allem eines: das Gefühl von Alarmismus.

Stefan Selke: Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert
Econ, Berlin 2014
368 Seiten, 19,99 Euro

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