Sachbuch "Die digitale Bildungsrevolution"

Masse und Klasse versöhnen

Ein Schüler arbeitet in der Waldschule in Hatten in seinem Klassenzimmer am Tablet.
In deutschen Klassenzimmern wird immer öfter auf Tablet-Computern gelernt. © picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen
Von Vera Linß · 04.11.2015
Digitale Technologien schaffen Wohlstand für alle, fördern Transparenz, bringen mehr Demokratie – diese Heilsversprechen der Digitalisierung sind längst als Mythos enttarnt. Kein Grund für Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt, nicht mit einer neuen Utopie aufzuwarten.
Die digital vernetzte Welt führe zu einem gerechteren Bildungssystem, behaupten die Experten der Bertelsmann Stiftung. Demnach sei es nur eine Frage der Zeit, bis die "digitale Bildungsrevolution" auch hierzulande "kein Stein auf dem anderen" lasse.
Ihre Beweiskette scheint schlüssig. Anschaulich zeigen sie, was sich ändern muss auf dem Gebiet des Lernens. Der "globale Bildungshunger" – das Streben nach höherer Bildung besonders in den Schwellenländern – sprenge längst die Kapazitäten. Allein 200 Millionen Chinesen sollen bis 2020 ein Hochschulstudium absolvieren, 500 Millionen Inder bis 2022 ausgebildet werden. Aber auch in Deutschland sind die Hörsäle überfüllt, seitdem die Zahl der Studierenden Jahr für Jahr steigt.
Qualität bleibe dabei auf der Strecke. Es sei denn, man setze auf digitale Lösungen. Das Prinzip ist einfach. Schüler und Studenten erwerben ihr Wissen am Computer, mittels spezieller Lernsoftware. Die intelligenten Programme erlauben es, dass Tempo und Abfolge der Stoffvermittlung jeder Nutzer selbst bestimmen kann. Nur wer nicht weiterkommt, erhält Hilfe vom Lehrpersonal. Beispiele gibt es bereits. Etwa die "School of one" in Brooklyn, wo der Matheunterricht seit drei Jahren individuell zugeschnitten wird und die Lehrer auf dem Monitor das Fortkommen ihrer Schützlinge verfolgen. Oder die schon legendäre Khan University, deren Internet-Erklärvideos in den USA bereits Teil des Unterrichts sind.
Das große Versprechen besteht für Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt darin, dass digitale Lehrmittel "Unversöhnliches" versöhnten: den "Gegensatz zwischen Masse und Klasse". Erstmals gebe es einen individuellen Bildungszugang für alle, nicht nur für die Eliten. Denn Software, die sich unbegrenzt vervielfältigen lässt, ist kostengünstiger als ein milliardenschweres Bildungssystem, wie es sich etwa Deutschland leistet.
Profitables Geschäft mit Bildungsangeboten
Wie viel Gerechtigkeit dabei tatsächlich entsteht oder ob es – wie so oft – nicht bei einzelnen Leuchtturm-Beispielen bleibt, analysieren die Bildungsforscher aber nicht. Die Begeisterung, mit der sie ihre Utopie des digitalen Lernens ausmalen, verwundert daher kaum. Europas größtes Medienunternehmen, der Bertelsmann-Konzern, für dessen Stiftung beide arbeiten, will das profitable Geschäft mit Bildungsangeboten ausbauen. Da erscheint der Katalog der noch zu lösenden Probleme, den sie an das Ende ihres Buches gestellt haben, eher wie ein Feigenblatt.
Denn tatsächlich wirft "Die digitale Bildungsrevolution" mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Und vielleicht stößt sie genau deshalb auf soviel Widerstand, wie die beiden Autoren beklagen. Aber wie etwa soll ein "Digitalkonzept" aussehen, das alle berücksichtigt, auch die sozial Schwachen? Und vor allem: Was geschieht mit den Daten, die Lernende in die Computer eingeben? Vorschläge? Fehlanzeige.

Jörg Dräger/Ralph Müller-Eiselt: Die digitale Bildungsrevolution. Der radikale Wandel des Lernens und wie wir ihn gestalten können
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015
240 Seiten, 17,99 Euro

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