Sachbuch

Das islamische Recht unter die Lupe genommen

Muslime beim Gebet.
Beim Gebet: Was Muslime unter Scharia verstehen, dürfte höchst unterschiedlich sein. © picture alliance / dpa / EPA/STR
Von Stefan Weidner · 11.07.2014
Ohne Beschönigungen räumt Sadakat Kadri mit dem Missverständnis auf, die Scharia bedeute nichts anderes als die Einführung brutaler Körperstrafen. Der Jurist erklärt Geschichte, Gegenwart und Problematik des islamischen Rechtsverständnisses.
Das Buch des aus Indien stammenden britischen Juristen Sadakat Kadri über die Scharia, das in England ein großer Erfolg war und sogar vom Londoner Bürgermeister Boris Johnson empfohlen wurde, gibt einen Überblick über Geschichte, Gegenwart und Problematik des islamischen Rechtsverständnisses. Ohne zu beschönigen, räumt der Autor mit dem verbreiteten Missverständnis auf, Scharia bedeute nichts anderes als die Einführung brutaler, vormoderner Körperstrafen.
Ursprünglich heißt Scharia "Weg zur Quelle", übertragen "Weg zum guten (muslimischen) Leben". Dabei ist wichtig, dass die Scharia ein Konzept ist, kein klar definierter Korpus von Rechtsvorschriften.
Die Scharia entstand nicht gleich mit dem Entstehen des Islams in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts, sondern hat sich erst in den folgenden beiden Jahrhunderten herausgebildet und ist bis heute zahlreichen Veränderungen unterworfen. Der Koran selbst reicht als Grundlage bei weitem nicht aus. Im Laufe der Zeit traten daher Berichte über Taten und Aussagen des Propheten als Rechtsgrundlage hinzu, die sogenannte Hadith-Literatur.
Charakteristisch sind auch die vier Rechtschulen, die sich jeweils auf ihre Gründerväter oder verschiedene lokale Traditionslinien berufen. Jenseits dieser Rechtsschulen positionieren sich die Salafisten, die unter Umgehung der historischen Gewordenheit der Scharia einen unmittelbaren Zugang zur Islamischen Frühzeit behaupten. Sie gehen davon aus, dass man alles Überlieferte wörtlich nehmen kann und dass es keinen Spielraum für Interpretationen gebe.
Steinigung ersparen
Der salafistische Rechtsfundamentalismus ist jedoch erst in jüngerer Zeit populär geworden. Er prägt zwar den heutigen Diskurs über den Islam, bestimmt die tatsächliche Rechtspraxis und Politik jedoch nur in Ausnahmefällen. Selbst in Ländern, in denen offiziell die Scharia gilt, wird, so berichtet Kadri, oft versucht, die härtesten Strafen zu vermeiden.
Um einer wieder schwanger gewordenen Witwe den Vorwurf eines unehelichen Geschlechtsverkehrs und damit die Steinigung zu ersparen, wurden zum Beispiel in Nigeria Rechtsfiktionen erfunden: Es könnte ja sein, dass eine Schwangerschaft in Wahrheit mehrere Jahre dauert, so dass die Frau noch von ihrem vor Jahren verstorbenen Ehemann schwanger geworden sein könnte.
Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund der Überzeugung, dass die Herstellung der absoluten Gerechtigkeit nicht Menschensache ist, sondern nur von Gott selbst bewerkstelligt werden kann.
Nichts anderes als Gerechtigkeit
Wenn sich, wie Kadri eine Statistik aus Großbritannien zitiert, fast 50 Prozent der Muslime positiv zur Scharia äußern, heißt dies nicht, dass sie alle Fundamentalisten sind.
Was sie unter Scharia verstehen, dürfte höchst unterschiedlich sein, so unterschiedlich wie die verwirrende Vielfalt islamischer Rechtsmeinungen, die durch Internetforen und Online-Fatwas offensichtlich geworden ist.
Scharia, so könnte man die Schlussfolgerung des Autors auch deuten, bedeutet für die meisten gläubigen Muslime oft nichts anderes als Gerechtigkeit.

Sadakat Kadri: "Himmel auf Erden"
Matthes und Seitz Verlag 2014
320 Seiten, 29,90 Euro