Sachbuch

Amerika bröckelt

Von Philipp Albers  · 23.07.2014
Mit eindringlichen Porträts schafft der Autor George Packer eine literarische Collage, die eine Nation in Auflösung zeigt. Ein Buch, das über Amerika hinaus auch uns die Frage stellt: In welcher Welt wollen wir leben?
Die USA stecken in einer tiefen wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Krise - nicht erst seit dem Finanzcrash von 2008. Selbstvertrauen, Gemeinschaftsgefühl und das ur-amerikanische Zukunftsversprechen von Glück und Wohlstand für alle haben sich in den letzten dreißig Jahren in Luft aufgelöst. Die soziale Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander, die gesellschaftlichen Institutionen erodieren - von Politik über Gewerkschaften und Medien bis zum Bildungssystem - und der Kitt aus verbindlichen Werten und Normen bröckelt.
Die Mittelschicht, seit dem Zweiten Weltkrieg Wachstumsmotor und Stabilitätsanker, wird zerrieben. Was macht dieser schleichende Verfall mit den Menschen? Davon erzählt George Packer, Journalist beim New Yorker und einer der renommiertesten Reporter der USA, in seinem preisgekrönten Buch "Die Abwicklung". Eine schonungslose Bestandsaufnahme zur Lage der Nation in Form einer Collage eindringlicher Porträts bekannter und unbekannter Amerikaner.
Da gibt es den gläubigen Kleinunternehmer Dean Price aus Greensboro, North Carolina, der mit seiner Tankstelle scheitert, weil er von den Ölkonzernen an die Wand gedrückt wird. Oder die Fabrikarbeiterin Tammy Thomas aus Youngstown, Ohio, die durch die Deindustrialisierung ihren Job in der Stahlindustrie verliert. Oder die Motelbesitzerin Usha Patel aus Tampa, Florida, die im Strudel der Immobilienkrise in die Zwangsvollstreckung getrieben wird.
Der Willen zum Weitermachen
Packer schildert mit großem Einfühlungsvermögen diese wechselvollen Lebensgeschichten, die nicht bloß Einzelschicksale sind, sondern immer auch etwas über soziale Schichten, Landstriche, Industrien und Lebensweisen erzählen, die in den Mahlstrom der Abwicklung geraten. Der Niedergang der Stahlindustrie im Rust Belt. Die Armut der Tabakfarmer im Süden. Die über Nacht aus dem Boden gestampften gesichtslosen Siedlungen in Florida, die ebenso schnell zu Geisterstädten werden, als die Blase platzt. Die korrupte Elite in Washington, die umstandslos von der Politik in die Wirtschaft, vom Wahlkampf zum Lobbyismus und zurück wechselt.
Schuldige gibt es viele, Packer findet sie vor allem bei den Eliten, denen er mit biografischen Skizzen etwa von Newt Gingrich, Robert Rubin oder Sam Walton ebenfalls ein Gesicht gibt. Es ist nicht nur die Gier der Wall Street, die die Abwicklung vorangetrieben hat, sondern gerade auch die demokratisch geführten Regierungen, die unter Clinton den Finanzsektor deregulierten und unter Obama den Banken beisprangen.
Doch bei aller Verfallsgeschichte, die an die desolaten Bilder erinnert, die etwa die HBO-Serie "The Wire" von der amerikanischen Gesellschaft zeichnet, entdeckt Packer bei den "einfachen Leuten" immer auch den Willen zum Weitermachen. Dean Price sucht nach der Pleite sein Heil in der Produktion von Biodiesel und Tammy Thomas entdeckt ihr politisches Bewusstsein und engagiert sich als Aktivistin in ihrer Community. Packers ungemein dichtes, zorniges Kaleidoskop des amerikanischen Albtraums eines entfesselten Kapitalismus ist grundiert von einer tiefen Liebe zu diesem Land und seinen Bewohnern, die trotz aller Verzweiflung, die Hoffnung nicht aufgeben.

George Packer: Die Abwicklung
Eine innere Geschichte des neuen Amerika
Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens
S. Fischer, Frankfurt/Main 2014
512 Seiten, 24,99 Euro

Mehr zum Thema