Russlanddeutsche in Nürnberg

Wie die Vertreibung der Stalin-Ära nachwirkt

Die Staatsflaggen von Russland (l) und Deutschland sind am 30.08.2014 nebeneinander auf dem Soldatenfriedhof in Lebus (Brandenburg) zu sehen.
Viele Russlanddeutsche befinden sich in einer widersprüchlichen Situation. © picture-alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Eleonore Birkenstock · 25.01.2016
Der Zweite Weltkrieg hat auch unter den Russlanddeutschen viele Opfer gefordert, dazu Hunderttausende zu Flüchtlingen gemacht - mit Auswirkungen auf die heutigen Generationen. In Nürnberg kümmert sich die Historikerin und Seelsorgerin Sabine Arnold um sie.
"In Russland waren wir die Faschisten ja, und in Deutschland die Ausländer. also irgendwie egal, wo wir waren: Man war immer jemand anderes."
Das ist der Widerspruch, mit dem viele Russlanddeutsche leben. Auch die Vorfahren von Eugenia, 34 Jahre alt, sind einst ausgewandert: von Deutschland gen Osten, und haben als Deutsche in Russland, in Staaten der ehemaligen Sowjetunion gelebt.
"Grüß Gott, sie haben uns gefunden."
Ich treffe mich mit Eugenia in der Schneiderwerkstatt ihrer Familie.

Auch Lydia ist gekommen – eine ihrer Schwestern. Lydia ist 51 Jahre alt, lebhaft, sie erzählt viel. Die Russlanddeutschen haben besonders im 20. Jahrhundert viel durchlebt: Enteignung, Stalinistischer Terror, Flucht, Vertreibung und Verschleppung. Vieles weiß sie von ihrer Mutter, erzählt Lydia. 1942 wurde die Familie der Mutter aus der Ukraine nach Sibirien deportiert. Sie hat sich eine Höhle in den Boden graben müssen, um den Winter zu überstehen. Die Schwester der Mutter, noch nicht mal ein Jahr alt, hat Hunger und Kälte nicht überlebt. Die Erlebnisse der Eltern, haben sich auch auf sie, auf die Kinder ausgewirkt, sagt Lydia.
"Das ist eine gewisse Art von Ängsten. Die kam von unseren Eltern, auf alle Fälle. Diese Unsicherheit im Leben. Durch ihre ganze Geschichte, durchs Leben, Kriegsgeschichte, Kindheitsgeschichte. Natürlich, das hat sie ja auch geformt und geprägt."
Das erlebte Leid hat die Sehnsucht nach der Heimat der Vorfahren, nach Deutschland größer werden lassen – bei der älteren Generation, den Großeltern und Eltern. Aber diese innere Bindung zu Deutschland hatten die Jüngeren nicht mehr.
"Klar, ich bin mit 26 nach Deutschland gekommen. Ich war ja schon in gewisser Weise russisch auch geprägt. Und dann musste das in mir mehr oder weniger anders werden. Alles alte in mir kaputt gemacht werden. Dass Neue werden kann."
Zudem war der Anfang in der Bundesrepublik nicht einfach. Viele Russlanddeutsche hatten Probleme damit, dass ihr gelernter Beruf nicht anerkannt wurde: vom Doktor zur Hilfskraft, ein schmerzhafter Statusverlust. Integrationsprobleme waren vorprogrammiert.
Sabine Arnold kennt die Geschichte der Deutschen aus Russland sehr gut. Sie ist Historikerin, hat in Russland für ihre Promotion geforscht und spricht deshalb sehr gut russisch. Inzwischen arbeitet sie für die SinN-Stiftung der evangelischen Kirche in Nürnberg – bei der Aussiedlerseelsorge. In Sabine Arnolds Büro steht ein silbern glänzender Samowar, eine typisch russische Teemaschine.
"Hallo Herr Karius…"
Hilfe in Anspruch nehmen
Sabine Arnold hilft Russlanddeutschen aller Generationen. Waldemar Karius ist zur Beratung gekommen. Es geht um eine Ausstellung. Der 57-jährige Künstler arbeitet mit Bernstein – dem Gold des Ostens. Waldemar Karius nimmt die Hilfe der SinN-Stiftung gerne an – und ist damit einer der wenigen Männer, die Unterstützung außerhalb der Familie suchen.
Karius: "Andere Männer sind da ganz anders."
Arnoldt: "Zu mir kommen ja fast nur Frauen. Warum kommen die Männer nicht?"
Karius: "Wissen Sie, vielleicht das geht von wo sie haben gelebt - Viele sagen: Ich bin Mann, warum muss da von jemandem muss etwas Hilfe von Frau… eeeh… Aber das ist Blödsinn."
"Ich habe auch viele Klienten, die mit psychischen Problemen zu mir kommen, weil sie in ihrer Geschichte oder im Migrationsprozess oder jetzt in ihrem Leben hier – irgendeine Situation erlebt haben, die sie traumatisiert hat oder hier psychisch krank geworden sind."
Dabei gilt die Zuwanderung der Russlanddeutschen inzwischen als Erfolgsgeschichte. Viele arbeiten, haben Häuser gebaut, anfängliche Probleme mit der Jugendkriminalität sind rückläufig. Für Sabine Arnold gibt es in derAussiedlerseelsorge aber noch genug zu tun.
"Wir haben es in unserer Gesellschaft immer noch mit der Erfahrung von Kriegen und Terror zu tun, die uns im 20. Jahrhundert geprägt haben und die bei genauso wie bei unseren ehemaligen Feinden immer noch tiefe Narben hinterlassen haben."
Es gilt diese Narben, die Traumata der Vergangenheit zu kennen, damit sie heilen oder zumindest verblassen können. Das gehört dazu, um seine Identität zu finden. Und um die Widersprüche auszuhalten zu können, die es gibt, wenn man zwei Heimaten hat.
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