"villes-refuge"

Flüchtlingspolitik ist Sache der Kommunen

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Mehrere Doppelstockbetten stehen am jeweils in den Familienquartieren in einem Hangar im ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin. © picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka
Von Klaus Englert · 06.04.2016
Die französische Idee der "villes-refuge" der 90er-Jahre sollte wiederbelebt werden, so der Architekturkritiker Klaus Englert. Nur ein einflussreiches Netzwerk aus Städten und Gemeinden sei flexibel genug, um Aufnahme und Integration von Flüchtlingen zu garantieren.
Flüchtlinge aus dem Süden sind in Deutschland zum Dauerthema geworden. Frankreich hat diese Erfahrung schon wesentlich früher gemacht. Im Mai 1993 war der algerische Journalist Tahar Djaout vor seiner Haustür von der sogenannten "Islamischen Heilsfront" ermordet worden. Für viele Algerier war das der letzte Anlass, ihre Heimat zu verlassen und in Frankreich Zuflucht zu suchen. Damals ging ein Weckruf durch die französische Gesellschaft. Die Intellektuellen begriffen schnell, dass man etwas tun musste, um zu helfen.

Französische Autoren warben einst für Zufluchtsorte

Ende 1993 kamen in Straßburg Autoren aus aller Welt zusammen und gründeten, unter dem Vorsitz von Salman Rushdie, das Internationale Schriftsteller-Parlament. Es stellte sich ein anspruchsvolles Ziel: Ein Netzwerk sogenannter "villes-refuge", von Zufluchtsorten aufzubauen, die bereit sind, bedrohten arabischen Schriftstellern und Künstlern Aufnahme und Asyl zu gewähren.
Unterstützt wurde das Projekt von Straßburgs Bürgermeisterin Catherine Trautmann, ebenso vom Europäischen Parlament. Bis 1995 schlossen sich über 400 europäische Kommunen der Initiative an.
Die Ähnlichkeiten zur Gegenwart sind nicht zu übersehen: Wie aus dem Algerien der 90er-Jahre treiben heute Krieg und Terrorangst die Menschen aus Syrien, Libyen und anderen Staaten in die Flucht. Früher waren es Städte wie Berlin oder Barcelona, die bereitwillig zahlreiche Bürgerkriegsopfer aufgenommen hatten.

Städte leisten Flüchtlingshilfe besser als Nationen

Auch heute könnte diese Idee weiterhelfen. Denn fast alle Mitgliedsstaaten der EU sabotieren eine koordinierte Aufnahme von Flüchtlingen nach Brüsseler Vorgaben. Dieser europäische Streit nährt vielerorts die alte Skepsis gegenüber Großorganisationen. Deswegen setzen immer mehr Intellektuelle auf kleinere politische Einheiten.
Zum einen reagieren Kommunen wesentlich schneller und flexibler auf neue Situationen, etwa den demographischen oder klimatischen Wandel, meist gestützt auf Bürger, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit vielerlei Initiativen engagieren.
Zum andern zeigen sich urbane Gesellschaften offener als Nationalstaaten gegenüber dem Fremden. Schon mittelalterliche Städte nahmen fremde Menschen auf, die vor weltlicher oder kirchlicher Willkür geflohen waren. Noch heute sind es Städte, in denen die Integration von Flüchtlingen am einfachsten gelingen kann.

Diesmal geht die Initiative von Spanien aus

Einige spanische Kommunen arbeiten seit Ende letzten Jahres daran, das Netz der Zufluchtsorte zu reaktivieren. Barcelona, Madrid, Cádiz, Valencia, Zaragoza und Pamplona haben den Anfang gemacht. Es liegt an den Kommunen der anderen Länder, daraus ein international gefestigtes Netzwerk zu knüpfen.
Wenngleich der Exodus aus dem Süden in den Norden heute ganz andere Dimensionen hat als damals in den 90er-Jahren: Städte und Gemeinden werden auch die neue Flüchtlingswanderung auffangen müssen, weil an ihnen kein Weg vorbeiführt.
Also sollten sie ihren politischen Einfluss geltend machen, gerade weil Kommunalpolitik pragmatisch zu handeln gewohnt ist, frei von jener sturen Rivalität, wie sie nationale oder internationale Politik kennzeichnet.

Klaus Englert, Architekturkritiker, schreibt für die "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Und den Hörfunk. Er war Kurator der Ausstellung "Architektenstreit. Brüche und Kontinuitäten beim Wiederaufbau in Düsseldorf" (Stadtmuseum Düsseldorf) und der Wanderausstellung von "Neue Museen in Spanien" und schrieb die Bücher "Jacques Derrida" und "New Museums in Spain".

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