Russland

Die schwarze Liste des Sicherheitswahns

Von Thomas Wheeler · 16.01.2014
Stellen Sie sich vor, Sie sind Russe, lehnen Präsident Putin ab, lieben Männer und chatten mit Gleichgesinnten im Internet. Zugegeben, ein extremes Beispiel. Würde all das auf Sie zutreffen, hätten Sie gleich eine Reihe von Problemen.
Aber auch sonst ist das Surfen im Netz längst nicht so unbeschwert möglich wie bei uns. Denn seit November 2012 kann die Regierung in Moskau Webseiten bereits nach "einem Anfangsverdacht auf rechtswidrigen Inhalt" ohne Gerichtsbeschluss sperren lassen. Damit sollen Kinder vor pornografischen und politisch extremistischen Inhalten geschützt werden. Andrej Soldatov, Journalist und Experte für Onlineüberwachung in Russland:
"Das Problem ist, dieses Gesetz wurde als Kampf gegen Pädophilie proklamiert. Die russische Mittelschicht ist bereit, sehr viel hinzunehmen, was Eingriffe in die Privatsphäre betrifft, wenn es um die Sicherheit ihrer Kinder geht. Jeder, der bisher versucht hat, das Gesetz zu kritisieren, wird als Anhänger der Pädophilie gebrandmarkt."
Die Behörden fordern die Provider auf, unliebsame Inhalte zu löschen. Passiert das innerhalb von 24 Stunden nicht, kommen diese Seiten auf eine "Schwarze Liste", deren Umfang und Zusammensetzung niemand einsehen kann. Offiziell ist von mehr als 10.000 gesperrten Seiten die Rede. Unabhängige Organisationen, die Monitoring betreiben, sprechen sogar von 80.000. Seit dem Jahr 2000 befasst sich Soldatov auf seiner Homepage Agentura.ru kritisch mit der Arbeit der russischen Geheimdienste:
"Der Sicherheitswahn in Russland kommt daher, dass die heutigen Geheimdienste in einer Linie mit ihrem Vorgänger KGB stehen, was die Mentalität betrifft. Das heißt, das Beste ist, alles zu kontrollieren. Schwer zu akzeptieren sind dabei Systeme wie das Internet, die sich eben nicht so einfach überwachen lassen."
Skrupellos werden die Bürger ausspioniert
Die russischen Geheimdienste dringen immer tiefer in die Privatsphäre ihrer Bürger ein. Skrupellos spionieren sie die Bevölkerung aus. Mit dem Instrument "Deep Packet Inspection" können die Schnüffler jedes Datenpaket, das durchs Netz läuft, öffnen und überprüfen. Will heißen, sie können Websites und E-Mails mitlesen, kopieren und Texte sogar manipulieren. DPI ist eine Ergänzung des Rechnersystems Sorm, mit dem der KGB-Nachfolger FSB alle Daten speichert, die in Russland über das Internet geschickt werden. Alexej Sidorenko, Blogger und Netzaktivist:
"Die Überwachungsmethoden führen auch dazu, dass immer mehr gebildete Russen ihre Heimat verlassen oder sich in die innere Emigration flüchten. Die Protestbewegung hat sich abgekühlt, weil die Regierung kritische Stimmen immer weiter einschüchtert und versucht, mundtot zu machen. Die Gefahr ist, dass an die Stelle der Intelligenzija radikale Kräfte treten, die, um ihre Meinung durchzusetzen, auch vor Gewalt nicht zurückschrecken."
"Big brother is watching you", heißt es auch bei den Olympischen Winterspielen, die in einem guten Monat in Sotschi beginnen. Mehr als 5.500 Videokameras haben die 300.000-Einwohnerstadt am Schwarzen Meer während der Spiele und Paralympics im Visier. Der russische Geheimdienst FSB will während dieser Zeit den Telefon- und Datenverkehr von Olympioniken und Fans umfassend überwachen. Nach den Erkenntnissen von Andrej Soldatov spielt das Nationale Olympische Komitee Russlands dabei eine wesentliche Rolle:
"Das russische NOK ist quasi die Schnittstelle zu den anderen Behörden. Dort wurden in den letzten Jahren massenweise Informationen über ausländische Sportler, Trainer, Wettkampfrichter und Journalisten gesammelt und werden nun bei Anfrage weitergegeben."
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