Russland

"Das ist schlimmer als eine Lüge"

Protestierende vor dem Moskauer Bezirksgericht am 24.2.2014, gegen die Verurteilungen von acht Kreml-Gegnern, die am 6. Mai 2012 an einer genehmigten Demonstration gegen Präsident Putin teilgenommen hatten.
Protest vor dem Moskauer Bezirksgericht am 24.2.2014 gegen die Verurteilungen von acht Kreml-Gegnern, die im Mai 2012 an einer genehmigten Demonstration gegen Präsident Putin teilgenommen hatten. © picture alliance / dpa / Dzhavakhadze Zurab
Von Gesine Dornblüth · 24.02.2014
Kaum sind die Olympischen Spiele beendet, offenbart sich die brutale Realität in Russland. Ein Moskauer Bezirksgericht verurteilte am Montag sieben Teilnehmer an einer Protestkundgebung gegen Präsident Putin zu mehrjährigen Haftstrafen, eine Frau erhielt eine Bewährungsstrafe.
Von Anfang an galt die Strafsache zum 6. Mai unter Beobachtern als politisch motiviert. Nach der Urteilsverkündung hagelt es nun Protest. Der russische Menschenrechtsbeauftragte findet das Urteil "zu hart“. Amnesty International nennt es eine "Parodie“. Die Menschenrechtsorganisation Memorial spricht von einem "Verbrechen“. Und die über 80-jährige Ljudmila Alexejewa vom Helsinki-Komitee, die die Urteilsverkündung im Gericht verfolgt hatte, schüttelt nur noch den Kopf.
"Es gab keine Massenunruhen am 6. Mai. Vor dem Hintergrund dessen, was in anderen Ländern passiert, kann man das nicht so nennen. Das ist schlimmer als eine Lüge. Das ist dumm."
Eine unabhängige Expertenkommission hat - parallel zu den offiziellen Ermittlungen - mehr als 100 Zeugen befragt und viele Stunden Videoaufzeichnungen analysiert. Ihr Ergebnis: Die Demonstranten haben sich an jenem Tag am Bolotnaja-Platz in erster Linie selbst verteidigt, und zwar gegen überzogene Polizeigewalt. Dieser Argumentation folgte auch die Verteidigung vor Gericht.
Widersprüchliche Polizisten-Aussagen
Richterin Natalja Nikischina jedoch erkannte vorsätzliches Handeln, trotz zahlreicher Widersprüche in den Aussagen der Polizisten. Sie folgte weitgehend den Ausführungen der Anklage, blieb aber unter deren Forderung von fünf bis sechs Jahren Haft. Gegen die sieben Männer verhängte die Richterin reale Haftstrafen zwischen zweieinhalb und vier Jahren. Die einzige Frau unter den Verurteilten kam mit einer Bewährungsstrafe davon.
"Bei Barabanow, Belousow, Zimin, Kriwow, Luzkjewitsch, Polichowitsch, Sawjolow ist eine Besserung nur zu erwarten, wenn sie von der Gesellschaft isoliert werden. Alles andere würde die soziale Gerechtigkeit nicht wieder herstellen und der öffentlichen Gefahr des Verbrechens nicht gerecht werden."
Keiner der Verurteilten war zuvor als Aktivist oder gar Unruhestifter bekannt. Der Student Jaroslaw Belousow zum Beispiel schrieb an einer Doktorarbeit über die Rolle sozialer Medien bei Protestkundgebungen. Zur Demonstration am 6. Mai kam er zu Studienzwecken. Sein Professor lobte ihn vor Gericht als talentiert und gebildet. Richterin Nikischina zählte weitere mildernde Umstände auf:
"Belousow ist verheiratet, hat ein dreijähriges Kind, das im vergangenen Jahr zwei Mal im Krankenhaus war und operiert werden musste. Belousows Frau, selbst Studentin, hat vor Gericht ausgesagt, dass sie das Kind seitdem zuhause pflegen muss und materielle Schwierigkeiten hat, weil ihr Mann nichts mehr dazu verdient. Auch die Verwaltung des Untersuchungsgefängnisses hat festgestellt, dass Belousow sich nicht beschwert, angemessen auf Erziehungsmaßnahmen reagiert und nicht zu Exzessen neigt."
Erneute Festnahmen unter Unterstützern
Und trotzdem verurteilte die Richterin Belousov zu zweieinhalb Jahren Lagerhaft. Er soll eine Zitrone geworfen und damit einen Polizisten verletzt haben. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, dass das vermeintliche Opfer zum Zeitpunkt des Wurfs schon weggegangen war.
Während die Richterin das Urteil verlas, nahm die Polizei in den Nebenstraßen erneut mehr als 200 Unterstützer fest. Bereits am Freitag, zu Beginn der Urteilsverkündung, waren ähnlich viele Menschen zum Gericht gekommen und festgenommen worden. Heute hatten Armeeangehörige und Eliteeinheiten der Polizei vorsorglich das gesamte Viertel abgesperrt. Trotzdem waren die Sprechchöre, die Rufe nach Freiheit, bis in den Gerichtssaal zu hören.
Die Verteidigung werde das Urteil anfechten, kündigte Dmitrij Agranowskij, einer der Anwälte, heute an:
"Das Urteil hätte schlimmer ausfallen können. Das rechne ich den Machthabern an. Aber es ist trotzdem falsch und schadet unserem Staat. All diese jungen Leute müssen freigelassen werden. Sie stellen keinerlei Gefahr für die Gesellschaft dar."
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