Russland als Großmacht

Karl Schlögel und Michael Stümer im Gespräch mit Michael Gerwarth · 28.09.2008
Karl Schlögel stellt in der Sendung dar, wie sich 1937 der Terror eines Notstandsregimes steigerte und innerhalb eines Jahres eineinhalb Millionen Menschen ums Leben kamen. Michael Stürmer blickt auf Russlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Michael Gerwarth: Heute kommt die Sendung wieder aus der Essener Buchhandlung "Proust" in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Medienpartner ist die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Ich bin Michael Gerwarth, freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Gerne stell ich Ihnen meine interessanten heutigen Gäste vor.

Da ist zunächst Karl Schlögel. Er lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zahlreiche Bücher hat er veröffentlicht. Erwähnen möchte ich vor allem "Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik", erschienen bei Hanser. Jetzt liegt sein neues druckfrisches Buch vor. Es heißt "Terror und Traum: Moskau 1937". Darüber reden wir gleich. Herzlich willkommen, Herr Schlögel.

Ich begrüße Michael Stürmer, Publizist, Autor zahlreicher, sehr anregender Bücher über deutsche Zeitgeschichte – vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur Nachkriegsgeschichte. Sein neues Buch beschäftigt sich mit dem schwierigen Nachbarn Russland, "Das Land, das aus der Kälte kommt", heißt es. Und es erscheint im Murmann Verlag Hamburg. Auch Sie herzlich willkommen, Herr Stürmer.

Moskau 1937, Herr Schlögel, das Jahr markiert den Höhepunkt von Stalins diktatorischer Herrschaft. Sie sprechen von einem Orkan der Gewalt, der über das Land fegt. Und im Schatten des Terrors will das stalinistische Regime eine neue Gesellschaft aufbauen. Wie haben Sie sich diesem wichtigen, aber zugleich auch schrecklichen Thema eigentlich angenähert?

Karl Schlögel: Die Ereignisse sind ja bekannt, dass es die Zeit der großen Schauprozesse, der Säuberungen war. Durch die neuen Archivöffnungen, durch die Dokumente sind uns auch die Zahlen dieser Massenoperationen bekannt geworden. Innerhalb eines Jahres waren es knapp 700.000 Menschen, die getötet worden sind. Aber dass das 1937er Jahr ein historisches Datum ist, war eigentlich allen Sowjetbürgern klar. Es ist aber etwas anderes, ob man nur ein Ereignis mit einem bestimmten Datum zusammenbringt oder ob man das vor Ort besichtigt. Mein erster Versuch war, diesen Ort, an dem das alle geschehen ist, abzuschreiten und die Geschichte dieses Ortes in diesem Jahr zu erzählen. Das wäre der Oktobersaal im Gewerkschaftshaus. Das ist die Lubjanka, der Sitz des NKWD, die Exekutionsplätze draußen am Stadtrand, die Kinotheater. Was der Ort schafft oder wozu einen der Ort zwingt, ist, dass man die Dinge, die sich in einem Jahr abgespielt haben, an diesem Ort zusammen denkt. Man kann sich da nicht nur eine Sache heraussuchen, sondern wer diesen Ort abschreitet und besucht, bekommt es mit allen diesen Ereignissen zu tun.

Michael Gerwarth: Ich möchte zunächst noch einen Aspekt herausgreifen, Herr Schlögel, den ich schon nach wenigen Sätzen bei Ihnen im Vorwort fand. Sie notieren da eine auffällige Ungleichheit. Ich zitiere das mal:

"Eine Welt, die sich die Namen von Dachau und Auschwitz eingeprägt hat, tat sich schwer mit Namen wie Workuta oder Kolyma. Man hatte Primo Levi gelesen, aber nicht Schalamow. So starben die Opfer des Stalinismus ein zweites Mal, diesmal im Gedächtnis." Warum war das so?

Karl Schlögel: In Deutschland ist es, glaube ich, ziemlich klar, dass man unter diesem Schock des Nationalsozialismus steht und dass man damit auch bis zum Ende seiner Tage beschäftigt ist und man eigentlich nicht viel intellektuelle, moralische Ressourcen übrig hat, um sozusagen noch anderen Katastrophen ins Auge zu blicken. Aber wenn man sich die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert ansehen will, dann gibt es noch diesen anderen Schauplatz. Ich möchte, dass mit diesem Buch ein Schauplatz in unseren Horizont zurückkehrt, der gewissermaßen an den Rand geschoben worden ist und der nicht vorkommt und der dafür sorgt, dass wir eben die Erinnerungen von Kertész oder von Levi kennen, aber nicht Schalamow, der an der Kolyma 20 Jahre gesessen hat. Ich glaube, dass es die Arbeit dieser und der nächsten Generation sein wird, im Grunde diesen Geschichtshorizont neu in den Köpfen zu verankern.

Michael Gerwarth: "Der Vergleich ist die Wurzel allen Übels", meinte Schopenhauer. Wir wagen es trotzdem mal, Herr Stürmer, weil ich doch gerne noch mal auch Sie fragen will, warum die stalinistischen Grausamkeiten im Nachkriegswestdeutschland nicht so im Rampenlicht standen, doch auch angesichts der Dimensionen der Verbrechen.

Michael Stürmer: Also, ganz so am Rande waren sie ja nicht, wenn Sie etwa an die Debatte über das Grundgesetz 1947/ 48/ 49 denken. Das Grundgesetz ist gegen die Gegenwart Stalins und die Vergangenheit Hitlers gerichtet. Darüber war man sich schon klar. Es war sozusagen der antitotalitäre Konsens. In der Zeit des Kalten Krieges hat man merkwürdigerweise eine historisch ernstzunehmende Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit nicht getan. Das war sozusagen alles ein gewaltiges schwarzes, düsteres Loch. Danach in den 80er Jahren gab es ja sozusagen ein Vergleichsverbot. Erst 1989 ist das aufgebrochen worden, als speziell die Polen, die Balten hineinkamen und sich fragten: Was war eigentlich schlimmer? Hitler oder Stalin? Damit sind diese Denkverbote und Denkrichtungen der frühen Jahre, der späten 40er, der 80er Jahre an den Rand geschoben worden.

Heute können wir sehr viel mehr wieder fragen nach Ursachen, Wirkungen, Vorbildern, Nachbildern und wie sich das alles gegenseitig beeinflusst hat, und natürlich auch die Wesensverwandtschaft und die Wahlverwandtschaft dieser beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts studieren und zu begreifen in ihrer Ungeheuerlichkeit und auch in ihrer permanenten Bedrohung der Zivilisation.

Michael Gerwarth: Moskau 1937, Herr Schlögel, ist ja unbestreitbar ein Schauplatz der europäischen Geschichte. Sie wollen in Ihrem Buch aber nicht weitere Thesen das Wesen des Stalinismus präsentieren. Sie haben methodisch etwas anderes vor. Erzählen Sie.

Karl Schlögel: Sowohl die alte Schule des Totalitarismus, die sich das immer vorgestellt hat als sehr homogen gesteuert aus einem Zentrum von einer sehr mächtigen Gestalt – ich glaube, das ist eine unhaltbare Vereinfachung – und dann im Gegenzug zur sogenannten revisionistischen Schule, die sich überhaupt nicht mehr für die diktatoriale, für die gewalttätige, für die politische und polizeiliche Dimension, sondern die nur noch nach sozialen Strukturen und sozialen Aufstiegswegen gefragt hat.

Mir geht es eigentlich darum, diese Vereinfachungen, die in diesen beiden Schulen drin stecken, zu revidieren und zur Seite zu legen. Mein Weg, um an diese Geschichte heranzukommen, ist im Grunde, die Ereignisse dieses Jahres noch einmal zu erzählen, die sich in diesem Jahr von August 1936 bis März 1938 abgespielt haben, und die Summe dieser Geschichten – es sind ungefähr 1940, die von mir ausgewählt worden sind – soll eigentlich die unübersichtliche, chaotische, aber auch gewalttätige Situation rekonstruieren. Die Hauptfrage der Betroffenen war ja damals: Warum? Sie konnten sich keine Antwort darauf geben, warum passiert das eigentlich. Das war ganz anders als in Hitlerdeutschland. In Hitlerdeutschland wusste man, warum man dran kam, wer ausersehen war für Verfolgung. Die Opfer des Jahres 37 wurden alle in den Rücken geschossen. Sie wussten nicht, warum sie eigentlich, die loyal zur Sowjetunion, loyal sogar zu Stalin waren, umgebracht worden sind.

Michael Gerwarth: Nun ist das Böse in der Welt ja nicht nur Wahnsinn oder Dummheit. Herr Stürmer, hinter den Grausamkeiten in Moskau steckte ja auch so was wie reale Absicht, Machtsicherung unterstelle ich mal, Ausschalten der Gegner, Angst einflößen etc. pp. Aber wodurch wurde es eigentlich ausgelöst. Das führt uns auf ein Psychogramm von Stalin. War er ein Psychopath? Hatte er von morgens bis abends Verfolgungswahn? Wie ist das zu erklären?

Michael Stürmer: Das Sowjetsystem war ja auf die Konstruktion des Feindes gebaut, des Klassenfeindes, des äußeren Feindes. Es entsteht aus einem Putsch einer Minderheit. Es gibt einen Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg ist das Geburtstrauma der Sowjetunion. Der prägt das. Dazu kommt, dass – bis auf Deutschland im Rapallo-Vertrag – keine auswärtige Macht die Sowjetherrschaft als legitim anerkannt hat. Im Rapallo-Vertrag haben die beiden Pariastaaten des internationalen Systems sich zusammengetan. Die Russen haben gesagt, wir haben keine Ansprüche aus Versailles. Und die Deutschen haben gesagt: Wir haben keine Ansprüche an euch. Davor gab es schon eine enge Zusammenarbeit, etwa Reichswehr und Rote Armee, die ganzen sehr folgenschweren Dinge – Giftgas, Panzer, Flugzeug, alles das findet schon in der Zeit der Weimarer Republik statt. Es ist im Grunde eine düstere Vorschau auf den Hitler-Stalin-Pakt.

Aber gleichzeitig ist Russland nicht im Völkerbund, gehört überhaupt nicht in die Nachkriegsordnung, sondern ist sozusagen ein wilder Spieler in einem System, was nur ein sehr fragmentarisches System ist. Die Westmächte halten Russland, halten Sowjetrussland für eine Räuberbande. Das ändert sich erst mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Ab 34 beginnt man diplomatische Beziehungen aufzunehmen – Völkerbundeintritt, Deutschland geht raus, Russland kommt rein – usw. Eine permanente Frontstellung, die natürlich noch dadurch gesteigert wird, dass durch die Erfindung des inneren Feindes auch eine enorme Aktivierung stattfand. Diese inneren Feinde mussten ja auch irgendwie beerbt werden. Das heißt auch eine Umverteilung von Macht, Einfluss, allem fand da statt. Da gab’s nicht nur die großen politischen Gesichtspunkte, sondern auch den Gesichtspunkt, die Wohnung von dem will ich haben, also wird er angezeigt.

Michael Gerwarth: Herr Schlögel, wenn wir an Moskau 1937 denken, fällt den meisten höchstwahrscheinlich das Hotel "Lux" ein. Dort trafen sich die Emigranten, die deutschen. Schillernde Namen war da drunter, von Walter Ulbricht bis Clara Zetkin, auch internationale, Markus Wolf, der spätere Stasi-Chef, aber auch Herbert Wehner. Wie gehen Sie mit diesem Thema um in Ihrem Buch?

Karl Schlögel: Ja, das Hotel Lux kommt auch vor, es gibt auch ein Kapitel über die Selbstzerstörung der Komintern, an der Führungsschicht innerhalb der Führung nur ein Teil gewesen ist. Aber man muss endlich begreifen, die Hauptaktion des Jahres 37, nämlich ab Ende Juli 37 bis im Grunde Herbst 38, war die systematische Tötung von sogenannten Kulaken, Kriminellen, antisowjetischen Elementen. Im Grunde konnte jeder darunter gefasst werden. Das muss man sich einfach vorstellen: Es sind 700.000 Menschen umgebracht worden, es sind Quoten formuliert worden für die Tötung, bestimmte Zahlen genannt worden sind, die in jeder Region beseitigt werden mussten. Und die Regionalchefs, die Regionalfürsten haben diese Gelegenheit benutzt, um alle Leute loszuwerden, die sie immer schon loswerden wollten. Es trat geradezu ein Wettrennen ein, um die Zahlen zu steigern.

Es gab die verrückte Situation, dass aus den Provinzen Anfragen und Forderungen nach Moskau gemeldet wurden, die Quoten zu erhöhen, die ursprünglich vielleicht bei 20.000 lagen, wovon 5000 sofort exekutiert werden, 15.000 ins Lager geschickt werden. Es gab also einen lebhaften Wettbewerb zur Erhöhung der Zahl derer, die umgebracht werden sollen.
Ich finde, dass es einen solchen Vorgang der planmäßigen, nach Quoten vollzogenen Tötung von Menschen in dieser Zahl, diese Zahlen sind verbürgt, darüber gibt es alle Unterlagen, bis dahin eigentlich nicht gegeben hat. Ich spreche deswegen auch in dem Buch von einem "Zivilisationsbruch vor dem Zivilisationsbruch". Das war etwas wirklich Neues.

Michael Gerwarth: Gleichzeitig vor diesem Hintergrund, das wird in Ihrem Buch ja auch spürbar, war Moskau ja auch eine faszinierende Stadt der Moderne, Schwarm der linken Kulturschickeria, Architektur, Kunst. Alles war auf groß, auf Eindruck getrimmt. Kann man sagen, die Stadt stand in einem Wettbewerb mit den deutschen Nationalsozialisten? Zwei verfeindete Systeme vereint in ihrer Vorliebe für Monumentales?

Karl Schlögel: Nein, ich würde den Akzent anders setzen. Ich glaube, dass der Hauptgrund, die Hauptkraft und das Hauptmotiv für diesen Wunsch, die Welt umzugestalten nicht in ein utopisches Projekt ist. Diese Leute wussten überhaupt nicht, wer Marx und was Marxismus ist, diese Bauern und Arbeiter konnten mit diesen Namen überhaupt nichts anfangen, sie wussten gar nicht, was das ist und wer das ist. Sondern der Hintergrund ist eine tiefe massenhafte traumatische Erfahrung dieses Landes, das den Krieg von 1914 bis zum Bürgerkrieg 1920 mit Abermillionen Toten, mit Hungersnöten, das Trauma der Kollektivierung mit einer schrecklichen Hungersnot hinter sich gebracht hat.

Eigentlich war jede Regierung, die es nicht vermochte, diesem Land ein Projekt, eine Vision, wie es endlich zu sich und zur Ordnung und zur Ruhe kommen soll, zum Scheitern verurteilt. Im Grund ist der Plan, Moskau neu einzurichten, das sind eigentlich alles alte, im Grunde uralte Pläne, die eigentlich schon bis auf Peter den Großen zurückgehen, ist die Stunde, wo das Reich, das erschüttert und auseinandergefallen war, gleichsam einen neuen Haltepunkt sucht.
Diese Gigantomanie, dieser Monumentalismus, diese übersteigerte Architektur ist im Grunde der Versuch, architektonisch einen Haltepunkt für dieses nach allen Richtungen auseinandergeflogene Imperium zu finden. Ich würde es daraus hauptsächlich ableiten.

Michael Gerwarth: Gleichzeitig gab es aber auch diese vergoldeten U-Bahnstationen, alles recht prunkvoll, Art Deco in Moskau.

Karl Schlögel: Ich finde wichtig, dass der Bezugspunkt eigentlich nicht Nazi-Deutschland war, obwohl das immer gesagt wird, durch die Pariser Weltausstellung, wo der Speersche und der Iofansche Pavillon gegenüber standen. Der Hauptbezugspunkt war für lange Zeit Amerika. Sowjetrussland hat sich als überlegen gegenüber dem alten dekadenten, durch den Krieg degradierten Europa angesehen. Es hat Maß genommen an Amerika. Wenn man einen Palast der Sowjets baute, dann hat man an Rockefeller-Center gedacht, wenn man Kinos gebaut hat, an Radio-City. Wenn man Straßen und Parkways für Moskau, dann hat man nach den Highways geguckt. Eines der schönsten Bücher ist in 37 erschienen von Ilf und Petrov, die eine Reise gemacht haben durch die USA. Das ist ein einziges Loblied auf Amerika. Sie werden es nicht glauben, dass im Jahr des entfesselten Terrors eine Apologie, ein Loblied auf Amerika publiziert worden ist. Ich finde das atemberaubend.

Michael Gerwarth: Finde ich auch. Wie finden Sie es denn, Herr Stürmer?

Michael Stürmer: Gar nicht so erstaunlich. Denn auch heute, während die Lautsprecher voll aufgedreht sind auf Gegensatz und Unversöhnlichkeit, ist Russland, ist auch die Führungsspitze, soweit man das sehen kann, in einer Art von Hassliebe mit Amerika verbunden. Der Maßstab russischer Größe ist nicht die Menge von Furcht, die Russland rundum einflößt, sondern der Maßstab russischer Größe ist Amerika. Wir wollen anerkannt sein. Wir wollen wieder wie im Kalten Krieg die andere Weltmacht sein und als solche respektiert werden. Das geht bis in alltägliche Dinge, auch Prunkt und Protz. Das muss ja alles Amerika übertreffen. Nordamerika, USA, das ist der Maßstab dessen.

Da ist ein Komplex von: Zu-spät-gekommen-sein, ein Komplex von "wir sind abgesunken, durch eine Katastrophe gegangen, jetzt sind wir wieder da, das wünschen wir anerkannt zu werden". Wir sehen es jetzt gerade in diesen Tagen: Georgien auf der einen Seite mit amerikanischen Ausbildern, Venezuela Flottenbesuch, Bomberbesuch. Man will sozusagen in diesem großen Spiel der Weltmächte gleichberechtigter Spieler sein. Das ist tief psychologisch verwurzelt.

Michael Gerwarth: Herr Schlögel, Sie verzichten in Ihrem Buch auf einen Epilog. Warum denn bloß? Schließlich könnte man doch die schrecklichen Ereignisse ja – sagen wir es doch mal – bilanzieren, einen Ausblick wagen, auch eine Lehre für kommende Generationen bereithalten. Sie wollen das nicht?

Karl Schlögel: Ich hatte auch vor, einen Epilog zu schreiben. Als ich mich anschickte das zu tun, merkte ich, es geht nicht, und zwar: 1938 geht es bereits hinein in die neue Situation des Krieges. Ich habe schon gesagt, der Einmarsch Nazi-Deutschlands in Österreich oder der Anschluss, es baut sich sozusagen die Kriegsszene auf. Man müsste einen Epilog schreiben, wenn eine Geschichte zu Ende ist, aber die Geschichte geht weiter, nämlich mit einem Krieg, der alles in den Schatten stellt, was je über Russland oder die Sowjetunion gekommen ist, nämlich dieser deutsch-sowjetische Krieg mit seinen 27 Millionen Toten. Und es ist eigentlich dieser Krieg mit seinen unvorstellbaren Schrecken, der dann diese Katastrophe davor gleichsam eliminiert, in den Schatten gestellt und zum Schweigen verurteilt hat. Und 1937 ist gleichsam eliminiert worden durch die Ungeheuerlichkeiten des nachfolgenden Zweiten Weltkriegs.

Im Übrigen ist es dieselbe Geschichte wie mit dem Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg, in dem ja auch ungefähr 11 Millionen russische Soldaten auf dem Feld geblieben sind, eine demographische Ungeheuerlichkeit, existiert im Bewusstsein der Russen nicht, weil er überschattet worden ist von dem, was danach kam – von der Revolution und vor allem vom Bürgerkrieg. Dieses Verschwinden dieser Vorgeschichten, dieser traumatisierenden Vorgeschichten, ist ein ganz, ganz wichtiges Problem, was bis heute hineinreicht. Man kann sozusagen an 1937 nur herankommen, wenn man sozusagen den Großen Vaterländischen Krieg thematisiert.

Michael Gerwarth: Dann machen wir jetzt einen kühnen Sprung in das Moskau unserer Tage, Herr Stürmer: Aus der Asche seiner imperialen Entwürfe ist Russland wieder zur Großmacht mit globalem Anspruch aufgestiegen. Sie schildern in Ihrem Buch Ihre persönliche Begegnung mit Wladimir Putin. Erzählen Sie.

Michael Stürmer: Wladimir Putin ist ohne Zweifel auch jetzt, nachdem Medwedew der Präsident geworden ist, die zentrale Figur der Politik. Als Ministerpräsident hat er sehr viel mehr Vollmachten verlagert ins "Weiße Haus" an der Moskwa als jeder Vorgänger hatte. In Moskau ist sehr deutlich zu sehen – Prospekte, Zeitungen, Zeitschriften –, wann immer ein Bild von Medwedew auftritt, muss auch ein Bild oder eine Ikone, genauer genommen, von Putin daneben hängen. Auch in den Amtsstuben ist das so. Die Moskowiter selber und die Russen wahrscheinlich auch alle, sind ganz unsicher, ob eine solche Doppelherrschaft funktioniert.

Putin selber ist ein außerordentlich energischer Mann. Er hat über die letzten Jahre, soweit ich das beobachten konnte, sein Sprechtempo, sein Argumentationstempo enorm gesteigert, so als sei er nicht nur ein Treiber, sondern auch ein bisschen ein Getriebener, als wolle er die Botschaften sehr schnell, geradezu im Stakkato an seine Gesprächspartner geben, die großenteils aus dem Westen kamen – wie ich auch. Er ist ein überaus intelligenter, nicht zu unterschätzender Politiker schon der Weltklasse.

Michael Gerwarth: Aber generell, Herr Stürmer, ist das Selbstbewusstsein der neuen russischen Führung, auch gegenüber dem Westen, eher gespielt oder echt, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?

Michael Stürmer: Ich halte es für echt. Allerdings ist der russischen Führung in einem erstaunlichen Maß, jedenfalls was die Ehrlichkeit betrifft, klar, auf wie schwachen Füßen dieser Gigant Russland, der Hunderte von Milliarden jedes Jahr aus Öl- und Gasverkäufen und Pipelines einnimmt, steht. Die Demographie Russland ist eine ziemlich unvermischte Katastrophe. Russland nimmt jedes Jahr um etwa eine Million Menschen ab. Die muslimische Bevölkerung steigt. Die ethnisch russische Bevölkerung sinkt. Das ist bedrohlich aus russischer Sicht. Der Kaukasus ist in einer tiefen, tiefen Unruhe und wird von Russland nicht kontrolliert. Die Infrastruktur Russlands in schwach und brüchig und niemand weiß, wann Pipelines Löcher haben, wann Atomkraftwerke schwach werden.

Auch die Armee, die jetzt so groß herausgestellt wird, ist eine Armee mit fünf Prozent des amerikanischen Armeebudgets. Das Bruttosozialprodukt Russlands ist so groß wie das der Niederlande. Das sind alles schlechte Nachrichten. Und sie haben eine Inflation, die den kleinen Mann oder die kleine Frau – und die Frauen sind es, die Russland zusammenhalten, nicht die Männer, schon gar nicht die starken Männer – natürlich in den Wahnsinn treibt. Die Preise für Lebensmittel, Qualitätslebensmittel, die meistens aus dem Westen kommen, explodieren, gehen 15, 20, 30 Prozent Jahr um Jahr in die Höhe. Das ist eine ziemlich verzweifelte Situation. Die Wohnungen kosten. Wie man in Moskau überhaupt leben kann, wenn man nicht eine schuldenfreie Wohnung hat, das ist eigentlich für den Außenstehenden nicht zu erklären.

Michael Gerwarth: Eine schlechte Nachricht, Herr Schlögel, ist sicher auch, dass die Beziehungen zwischen Europa und Russland wegen der Georgienkrise, aber auch wegen der Ukraine, sagen wir mal, nicht zum Besten stehen. Wie kommt man da zueinander?

Karl Schlögel: Ich glaube, sie stehen politisch oder ideologisch oder auf dieser Hochebene der Diplomatie schlecht. Aber eigentlich läuft es sehr, sehr gut. Ich kann – wie soll ich sagen – diese Perspektive aus den Brüsseler Korridoren nicht ganz teilen. Wenn man sich auf den Straßen bewegt, wird der Verkehr, der Ausbau der Flughäfen, der unglaubliche Tourismus – Sie können heute in kein Kaff in ganz Europa kommen, wo sich nicht irgendwo russische Touristen rumtreiben, am Bodensee, in Triest, in Montenegro, überall sind sie und genießen die neue Freiheit und auch, dass sie Geld haben. Ich bin froh, dass sie endlich Geld haben und sich alles angucken können. Es ist wunderbar. Jeder, der gesehen hat, wie das Ausland tickt, kehrt verändert nach Hause zurück.

Ich bin der Meinung, dass eigentlich alles ziemlich gut läuft. Man soll eigentlich Bedingungen schaffen, damit es auf diese Grassroutes-Ebene kommt. Ich möchte das nicht romantisieren, aber dass die normalen Geschäftsbedingungen einfach besser und weiter ausgebaut werden. Darüber soll man hauptsächlich sprechen: über Straßen, über Brücken, über Flughäfen, über den Ausbau der Eisenbahn. Ich meine, das ist eine unglaubliche Geschichte, dass man in zehn Tagen von Hamburg nach Schanghai fahren kann oder dass es demnächst oben rum durch die Nordost-Passage einen sehr kurzen Seeweg nach Ostasien geben wird. Über solche Dinge soll man sprechen. Daran muss man die Führung messen.

Deswegen finde ich diese Abenteuer und diese Spielereien sehr kurzatmig und kurzsichtig. Eine tüchtige Führung eines großen Landes würde sich etwas um diese Dinge kümmern, nämlich wie man das Land in Ordnung bringt, und nicht diese Spielchen treiben.

Michael Gerwarth: Erstaunlich ist das ja schon, Herr Stürmer, Altkanzler Helmut Schmidt hat das gerade in Berlin noch einmal hervorgehoben, dass zwischen Russen und Deutschen, die sich ja gegenseitig im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach – Herr Schlögel hat es schon des Öfteren gesagt – unmenschlich viel Leid angetan haben, so gut wie keinerlei Feindschaft und Hass mehr existiert. Ist das nicht erstaunlich?

Michael Stürmer: Ach, so erstaunlich ist es ja nicht. Es ist ja auch zwischen Deutschland und Frankreich einiges Schlimme, Furchtbare vorgefallen. Aber meine französischen Freunde haben mir gelegentlich mal gesagt: Euer 1945 ist unser 1940. Zwei Völker sind durch unsägliche Katastrophen – weitgehend selbst verschuldet – gegangen. Das schafft ein gewisses Mitgefühl und ein tieferes Verständnis, zumal ja nun auch mehrere Generationen inzwischen nachgewachsen sind. Ich glaube, es wird im Sinne einer tiefen gemeinsamen europäischen Tragik gesehen. Der Begriff des "europäischen Bürgerkriegs" ist ein westeuropäischer Begriff, aber das wird auch in Russland so gesehen.

Im Prinzip sind Russlands Stärken und Schwächen genau komplementär zu unseren Stärken und Schwächen. Das heißt, es liegt im Grunde der Grand Design für ein auskömmliches und positives Verhältnis da. In dieser Situation ist es leichtfertig und gefährlich, die Frage der künftigen militärischen, politischen, moralischen Zugehörigkeit Georgiens oder der Ukraine qua Nato zu spielen. Man kann das spielen, aber man muss es auf einer ganz anderen Ebene, nicht auf einer gesamteuropäischen oder atlantischen Ebene spielen. Man kann eine ganze Reihe von Dingen testen, die jetzt da sind. Jetzt sind wir weit vom Jahr 37 weg, aber wir gehen ja nun in eine Welt, wir sind sehr in der Jetztzeit und in der Zukunft. Die Vorstellung, nun wegen Georgien sämtliche Gesprächsbrücken zu Russland abzubrechen, halte ich nicht nur für sehr töricht, sondern geradezu für schädlich und gefährlich. Diplomatie muss dann einsetzen, wenn die Dinge steinig und mühsam werden. Das ist nicht was für gute Zeiten, sondern etwas, was man in guten Zeiten vorbereitet, um in schlechten Zeiten weiterhin miteinander zu sprechen und zu finden, á wie zerbrechlich die Welt ist, und b) wie stark die gemeinsamen Sorgen sind – vom Klimawandel angefangen. Herr Schlögel erwähnt die Nordpassage. Das ist natürlich ein Produkt des Klimawandels. Wenn das Eis dort schmilzt, ist das teils gute, teils schlechte Nachricht.

Michael Gerwarth: Dann will ich mal sehen, ob Sie jetzt die Kurve kriegen, Herr Schlögel. Zu unserer Sendung gehört nämlich auch der ganz persönliche Buchtipp. Da würde ich gerne mal von Ihnen wissen, welches Buch Sie uns empfehlen können.

Karl Schlögel: Ich habe leider nur ein sehr trauriges Buch zu sagen, aber ich glaube, eines der größten der Weltliteratur, nämlich die Kolyma-Erzählung von Warlam Schalamow. Es ist, glaube ich, das Größte oder mit das Größte, das die russische Literatur im 20. Jahrhundert geschaffen hat, von einem Schriftsteller, der 20 Jahre in der Kolyma gesessen hat und eine Sprache für diese Erfahrung gefunden hat. Warlam Schalamow "Erzählungen aus Kolyma".

Michael Gerwarth: Wo ist das erschienen? Matthes und Seitz, ist das richtig?

Karl Schlögel: Ja, genau.

Michael Gerwarth: Herr Stürmer, welches Buch legen Sie uns ans Herz?

Michael Stürmer: Zwei Bücher, eins gibt’s, das andere gibt’s nicht mehr. Beide sind aus dem 19. Jahrhundert: Dostojewski "Die Dämonen", speziell das Kapitel "Großinquisitor", und dann den "Marquis de Custin. 1839, eine Reise für unsere Zeit". Marquis de Custin reiste nach St. Petersburg und an einige andere Stellen, beobachtete Russland. Also, Dostojewski und Custin.

Michael Gerwarth: Meine Damen und Herren, die Zeit ist leider um. Das war Lesart Spezial aus der Essener Buchhandlung "Proust", in Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Gäste waren heute Karl Schlögel mit seinem Buch "Terror und Traum. Moskau 1937", erschienen im Hansa Verlag München, und Michael Stürmer, Autor des Buches "Russland, das Land, das aus der Kälte kommt", Murmann Verlag Hamburg. Nachlesen können Sie die Rezension im Internet unter www.dradio.de unter "Lesart" und natürlich auch auf der Website vom Essener Kulturwissenschaftlichen Institut. Ich bin Michael Gerwarth, danke meinen Gästen für ihre engagierten Wortbeiträge und Ihnen und unseren Hörern für ihr Interesse an dieser Sendung.

Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937
Hanser Verlag, München

Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt
Murmann Verlag, Hamburg
Cover: "Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937"
Cover: "Karl Schlögel: Terror und Traum - Moskau 1937"© Hanser Verlag
Cover: "Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt"
Cover: "Michael Stürmer: Russland - Das Land, das aus der Kälte kommt"© Murmann Verlag