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Juan Pablo Villalobos: "Ich hatte einen Traum"
Jugendliche Grenzgänger

Juan Pablo Villalobos hat zehn jugendliche Mittelamerikaner interviewt, die unter abenteuerlichen Umständen in die USA geflüchtet sind, und ihre Geschichten literarisch bearbeitet. Sein Buch ist eine traurige Zustandsbeschreibung der schier ausweglosen gesellschaftlichen Situation in Mittelamerika.

Von Eva Karnofsky | 05.09.2019
Der mexikanische Schriftsteller Juan Pablo Villalobos, aufgenommen 2016
Villalobos schreibt über die Gewalt in den Ländern Mittelamerikas (picture alliance / dpa / Andreu Dalmau)
"Ich hatte einen Traum" ist ein erschütterndes Buch. Dabei steht nicht viel darin, was man nicht schon irgendwann einmal gehört hätte. Über den Zug, der mittelamerikanische Flüchtlinge quer durch Mexiko bis an die US-Grenze transportiert, wurden bereits Spielfilme gedreht. Mit den skrupellosen Schleppern, die die Menschen über diese Grenze schmuggeln, haben sich bereits Roman- und Sachbuchautoren beschäftigt. Und auch über die Gewalt in den Ländern Mittelamerikas, die von den Jugendbanden ausgeht, wurden bereits Filme gedreht und Bücher geschrieben. Es ist die besondere Perspektive in Juan Pablo Villalobos´ zehn Geschichten, die den Leser fesseln. Er lässt seine Protagonisten in der Ich-Form zu Protokoll geben, was sie erlebt haben. Die jüngsten von ihnen waren zehn Jahre alt, die ältesten siebzehn, als sie als sogenannte unbegleitete Minderjährige die Reise gen Norden antraten.
"Von weitem hört man die Schreie der Leute, die den Fluss durchqueren. Als Erstes ist ein Mädchen losgegangen, das es aber nicht schafft, weil es zu dick ist. Obwohl es dunkel ist, können wir sie im Mondschein sehen. Sie klammert sich mit aller Macht an das Seil, aber weil sie nervös ist, geht sie immer wieder unter.
'Hilfe, Hilfe, Hilfe!', schreit das Mädchen.
Sie schreit, dass sie ertrinken wird, und alle bekommen einen Schreck und plötzlich fangen viele an zu schreien. ...
'Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben', jammert ein völlig durchnässter Junge."
Die Erzählerin dieser Geschichte ist Kayla. Sie stammt aus Honduras und ist dreizehn Jahre alt, als sie sich mit ihrer siebzehnjährigen Cousine und deren acht Monate altem Baby mit einem Seil über einen nicht näher benannten Grenzfluss hangelt.
"Plötzlich können wir den Grund nicht mehr berühren. Der Fluss zerrt an uns, will uns wütend mitreißen. Unsere Arme und Beine sind taub vor Kälte, wir können nur mühsam atmen. Ab und zu schlucke ich Wasser, aber ich lasse das Seil nicht los."
Die meisten Kinder fliehen vor Gewalt
Kayla hat Honduras verlassen, weil sie hungerte, wenn die Mutter keine Arbeit fand und der Vater, der die Familie verlassen hatte, keinen Unterhalt zahlte. Kayla lebt heute bei Onkel und Tante in New York.
Andere Geschichten erzählen von der beschwerlichen Reise in überfüllten LKWs quer durch Mexiko. Die Kinder treibt immer die Angst um, darin zu ersticken oder entdeckt und zurückgeschickt zu werden. Andere berichten von mehrtägigen Fußmärschen durch die Wüste und ihrer Angst vor Schlangen. Oder von der Angst vor Überfällen durch kriminelle Banden. Wieder andere Jugendliche erzählen von den kalten, fensterlosen Zellen, den sogenannten Kühlschränken. Darin halten die US-Behörden sie fest, wenn sie aufgegriffen werden. Die Ernährung besteht aus Sandwiches. Daran erinnert sich auch die siebzehnjährige Abril:
"Als mich die Grenzpolizei verhaftet hat, kam ich in einen Kühlschrank, dann wurde ich in einen anderen in Nogales, Arizona, gebracht. Dort bekam ich nichts außer einer grünen Matratze und einer Decke wie aus Alufolie. Und da war diese fiese Beamtin, die meinte, ich wäre eine Bettlerin. Nur weil ich mir einen Saft und einen Erdnusskeks geschnappt hatte. Dass wir Schwarzen alle Bettler wären."
Meist ist es nicht die Armut, die die Jugendlichen aus Honduras, El Salvador oder Guatemala vertreibt, sondern die Gewalt der Jugendbanden, die in weiten Gebieten die Macht des Staates ausgehebelt hat. Die einzige Geschichte, in der Autor Villalobos in der dritten Person als Berichterstatter auftritt, erzählt von der Flucht der zehnjährigen Nicole und ihres Bruders Kevin aus Guatemala, der lieber unterwegs sterben wollte als zurückzukehren:
"'Und was ist mit deinem Arm passiert?', fragte der Mann den Jungen.
Der Junge fuhr sich mit der rechten Hand über den Gips, antwortete aber nicht.
'Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?'
'Den haben ihm welche von einer Bande in Guatemala gebrochen', sagte das Mädchen. 'Sie haben ihn auf der Straße verprügelt, als er vom Fußball kam. Er sollte bei ihnen mitmachen, aber er wollte nicht, und da haben sie ihm den Arm gebrochen.'"
Mexikanische Kinder in US- Haft
Andere Geschichten berichten von Familienangehörigen, die von den Banden ermordet wurden, von Schutzgeldern, die die Familien in die Armut trieben – kurz: sie sind zusammengenommen eine traurige Zustandsbeschreibung der schier ausweglosen politischen und gesellschaftlichen Situation in Mittelamerika. Und man will es kaum glauben, dass es Kinder sind, die von ihr berichten. Juan Pablo Villalobos hat ihre Namen geändert, aber er hat ihnen weitgehend ihre unkomplizierte Sprache gelassen und damit die Authentiziät der Geschichten bewahrt. Dazu trägt auch bei, dass er Dialoge, von denen die Kinder ihm berichtet haben, in die Erzählungen eingeflochten hat.
Nur eine Geschichte hat er in Tagebuchform gegossen. Sie erzählt vom zweiwöchigen Aufenthalt des zehnjährigen Dylan aus El Salvador in einem US-Flüchtlingsheim für Kinder:
"Hier im Heim sind alle Tage gleich. Wir stehen auf, duschen, haben Englischunterricht, frühstücken, dürfen ein bisschen Fußball oder Basketball spielen... Heute durfte ich mit meiner Mama telefonieren. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würde die Papiere schicken, um die man sie gebeten hatte, dann wird geprüft, ob ich zu ihr nach Los Angeles ziehen kann."
Zahlen und Fakten zum Staatsversagen in Mittelamerika
Der Band wird durch den Beitrag eines spanischen Journalisten abgerundet, der die Leser mit Zahlen und Fakten zur chaotischen Lage und dem Staatsversagen in Mittelamerika sowie zu den Flüchtlingen im Speziellen versorgt. In den vergangenen fünf Jahren sind allein 189.000 unbegleitete Minderjährige aus Mittelamerika über die Grenzen in die USA geflohen. In den USA verbleiben sie in der Regel 41 Tage in Haft, bevor man sie zu Verwandten weiterreisen lässt.
Oft haben diese Kinder traumatische Fluchtumstände hinter sich, denn sie kommen aus Ländern, in denen mehr Menschen eines gewaltsamen Todes sterben als in den meisten Kriegsgebieten. Juan Pablo Villalobos´ Band "Ich hatte einen Traum" ist nicht nur Mittelamerika-Interessierten zu empfehlen. So mancher Minderjährige, der aus Syrien oder Afghanistan allein nach Europa kommt, hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Jugendlichen, die aus Honduras oder Guatemala in den Norden geflohen sind.
Juan Pablo Villalobos: "Ich hatte einen Traum. Jugendliche Grenzgänger in Amerika"
Aus dem Spanischen von Carsten Regling
Berenberg Verlag, Berlin. 96 Seiten, 22. Euro