Russische Familiengeschichten

Von Mascha Drost · 29.01.2010
Die Lebensläufe Anton Tschechows und Wladimir Kaminers Familie haben zwar zufälligerweise gemeinsame Knotenpunkte. Aber anstatt einfach darauf hinzuweisen, bastelt Kaminer daraus umständliche Geschichten, um sie bis zum Letzten auszuwalzen.
Gleich der erste Satz weckt Misstrauen:

"Von Tschechow weiß ich nicht viel."

Schade - warum und wie dann eine CD von fast einer Stunde Länge füllen? "Aus den Tiefen der russischen Literatur" heißt es im Untertitel – doch eigentlich sind es die "Tiefen seiner Familiengeschichte", aus denen Wladimir Kaminer aus dem Vollen schöpft. Die Lebensläufe Anton Tschechows und Kaminers Familie haben zwar zufälligerweise gemeinsame, lokale Knotenpunkte, aber anstatt einfach darauf hinzuweisen und in ein, zwei kurzen, netten Anekdoten abzuhandeln, bastelt Kaminer daraus umständliche Geschichten, um sie bis zum Letzten auszuwalzen.

Tschechows Leben bietet dafür den Rahmen - man erfährt viel biografisches, aber wenig über seine Werke. Wahrscheinlich hätte die Zeit sonst nicht für biografische Einzelheiten von Kaminers Ur- und Großvater, Schwiegermutter und Ehefrau gereicht. Es scheint, als hätte er seiner Fähigkeit, locker und ironisch über Weltliteratur zu sprechen, nicht ganz vertraut. Hätte er ruhig – denn das sind immer die besten und unterhaltsamsten Momente geworden.

"Alle russischen Schriftsteller waren ständig unterwegs. Gogol stürmte die ganze Zeit durch Italien, Tolstoi lief barfuß von Dorf zu Dorf, Turgenjew und Dostojewski fuhren regelmäßig nach Baden-Baden. Tschechow wählte für seine erste große Reise die Insel Sachalin. Es war eine äußerst seltsame Wahl – diese Insel galt damals als größter Knast des russischen Imperiums."

Es folgt ein hochinteressantes Kapitel über die Geschichte von Sachalin, über Tschechows Aufenthalt dort und seine literarischen Aufzeichnungen - Pflichtprogramm für jedes Sachaliner Schulkind bis heute. Leider verirrt sich Kaminer auch hier in seinem Familiengeflecht und lässt sich gegen Ende minutenlang über Flugerlebnisse seiner Schwiegermutter aus. Als ob ihn ein Zwang nicht mehr als ein paar Minuten zusammenhängend über Tschechows Leben berichten ließe. Aber wenigstens sind die meist interessant erzählt und stellenweise sogar fast poetisch geworden.

Auf der zweiten CD des Hörbuchs finden sich drei kurze Erzählungen und eine der berühmtesten und berührendsten Novellen Tschechows, "Die Dame mit dem Hündchen". Kaminer liest selbst, geradeaus, direkt und weitestgehend unberührt von ausgefeilten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist fast ein wenig ungerecht, es mit einem anderen Hörbuch zu vergleichen: Der Hörspielbearbeitung von Tschechows Theaterstück "Drei Schwestern", in der Regie von Gert Westphal.

Olga, Mascha und Irina – drei Schwestern, mit einer Sehnsucht.

Olga:."Nur ein Traum ist da und wächst – und hält mich stark."
Irinia: "Nach Moskau reisen, das Haus hier verkaufen, alles aufgeben, und dann nach Moskau."
Olga: "Ja bald, bald nach Moskau!"

Es wird nicht dazu kommen – die drei Schwestern welken in der Provinz dahin, zusammengekettet durch Resignation, unglückliche Liebe und Tod.

"Nur eine kurze Spanne und wir werden für immer davon gehen, man wird uns vergessen, unsere Gesichter, unsere Stimmen, und wie viele wir waren."

Ein Kammerspiel mit dem Salon als Schauplatz, und ein Hörspiel, das den Theaterabend ersetzen kann. 1961 produziert, mit Schauspielern wie Paul Hoffmann, Dinah Hinz, Heinrich Schweiger oder Käthe Gold – allesamt Theaterlegenden von Wien bis Berlin. Es braucht bei solchen Stimmen keine Bühne – im Gegenteil, die würde bloß ablenken von den feinsten sprachlichen Nuancen, von den Stimmungsschwankungen und zwischenmenschlichen Schwebungen, die in einem einzigen Wort, manchmal in einem einzigen Seufzer hörbar werden. Und es wird viel geseufzt bei den Drei Schwestern:

"Ich bin schon 24 Jahre und was habe ich erreicht? Mein Gehirn ist wie ausgetrocknet, ich bin abgemagert, verdummt, gealtert. Die Zeit entflieht so rasch – und vom wahren, wirklich schönen Leben entferne ich mich immer mehr, als ob ich in einen Abgrund versinke."

Die "Drei Schwestern" werden nie nach Moskau kommen, sie bleiben in der Provinz, jede auf ihre Art unglücklich. Es ist ein Drama im kleinen, wie immer bei Tschechow, eine Ausschnittsvergrößerung des Alltäglichen, des alltäglichen Leids, und der Zeit, die entweder zu schnell oder gar nicht vergehen will. Trotzdem eine durchgehende, fast soghafte Spannung zu erzeugen – darin liegt die Kunst dieser Produktion.