Rundfunkchor Berlin in Athen

»human requiem« mit Flüchtlingen

Rundfunkchor Berlin
Rundfunkchor Berlin © Matthias Heyde
Holger Marks im Gespräch mit Ute Welty · 30.04.2016
Der Rundfunkchor Berlin geht seinem Projekt »human requiem«, einer szenischen Umsetzung von Brahms »Deutschem Requiem«, auf Tuchfühlung zum Zuschauer. Zuletzt in Athen, bei der Generalprobe haben die Sänger sogar vor 200 Flüchtlingen aus dem Lager von Piräus gesungen. Chorleiter und Tenor Holger Marks berichtet von berührenden emotionalen Begegnungen.
Der Tenor und Vorstand des Rundfunkchors Berlin, Holger Marks, berichtet von berührenden intensiven Erlebnissen in Griechenland bei der Tournee-Reise des »human requiem«.

Sehr emotionale Reaktionen

"Es war so eine Herzlichkeit, so eine Ungezwungenheit, und hier war die Stimmung so, dass es so gefallen hat und die Stimmung so ergriffen war, dass das Publikum sehr emotional reagiert hat und immer wieder auch nach jedem Teilstück geklatscht hat", berichtete Marks im Deutschlandradio Kultur über die besondere Generalprobe mit 200 Flüchtlingen für die Aufführung des »human requiem« in Athen.
In der szenischen Umsetzung des Requiems bewegt sich der Chor mitten unter dem Publikum. Diese ungewohnte und überraschend einsetzende Nähe habe auch bei den beiden Aufführungen in Athen dann zu starken emotionalen Reaktionen geführt: "Im ersten Teil, wo es um das Trösten geht, um die Trauer, aber auch um die Hoffnung" seien einige Zuhörer auch in Tränen ausgebrochen. Generell erreiche das Stück die Menschen auf besondere, emotionale Weise: "Egal man die Sprache verstehen oder nicht, da es eben ganz anders aufgeführt wird als bei einem ganz normalen Konzert", erklärte Marks. Wo sich die Sänger und Sängerinnen direkt neben dem Zuhörer präsentierten entstehe Intensität und Nähe: "Man öffnet beim »human requiem« seine Seele", sagte der Tenor und Chor-Vorstand.

Hoffnung, völkerübergreifend zu wirken

Auch bei der Generalprobe mit 200 Flüchtlingen sei es zu berührenden und ungewöhnlichen Momenten gekommen: "Da kam unglaublich viel Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit dieser Flüchtlinge hinzu, gerade auch von den Kindern. "Weibliche Chormitglieder hatten plötzlich ein Kind an der Hand, das Schritt für Schritt mitging, das ganz genau auf den Gesang geachtet hat." Er kehre von der Konzert-Tournee zurück mit dem Gefühl "dass die Musik, dieses »human requiem« universell ist." Dies bestärke den Chor auch in seiner Hoffnung, völkerübergreifend zu wirken und zum gegenseitigen Verständnis beizutragen. "Musik hat da doch eine gewaltige Wirkung. Und darin wurden wir wieder bestätigt", sagte Marks.

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Wer jemals ein Chorkonzert besucht hat, der kennt das Prozedere beziehungsweise die Aufteilung: Als Zuschauer sitzt man in der einen Hälfte des Raumes, der Chor steht in der anderen Hälfte. Bei Human Requiem, des Rundfunkchors Berlin, ist das anders, ganz anders. Da bewegen sich die Sänger zwischen den Zuschauern. Die Zuschauer werden Teil der Inszenierung. Mit dem Human Requiem, einer Bearbeitung des "deutschen Requiems" von Johannes Brahms war der Rundfunkchor Berlin auf Gastspielreise in Griechenland. Heute geht es zurück, und in Athen auf gepackten Koffern sitzt Tenor Holger Marks, guten Morgen!
Holger Marks: Schönen guten Morgen aus Athen!
Welty: Als deutscher Chor in Griechenland und dann auch noch mit einem Requiem, ich kann mir vorstellen, dass das keine Konzertreise ist, wie jede andere auch, weil doch dann politisch einigermaßen aufgeladen. Mit welchem Gefühl sind Sie zu dieser Reise aufgebrochen und mit welchem Gefühl kehren Sie jetzt zurück?

"Egal ob man die Sprache versteht oder nicht"

Marks: Sicherlich war die Vorstellung, jetzt nach Athen zu reisen, nach Griechenland inmitten dieser ganzen politischen Situation, ein anderes, als wenn man in ein anderes Land oder in eine andere Stadt gefahren oder geflogen ist, wir haben aber, glaube ich, schon so oft unser Human Requiem aufgeführt, dass wir eigentlich immer schon mit sehr viel Optimismus in unsere Konzertstädte gefahren sind, weil wir immer das Gefühl hatten, dass wir mit diesem Stück, egal, ob man beispielsweise auch die Sprache nun versteht oder nicht, die Menschen erreichen kann auf einer ganz emotionalen Ebene, weil es eben ganz anders aufgeführt wird als bei einem normalen Konzert. Wir hier oben auf der Bühne, und in einem entsprechenden Abstand dort unten das Publikum – beim Human Requiem ist es völlig anders.
Welty: Wenn es diesen intensiven Kontakt mit dem Publikum gibt, ist man da als Sänger nervöser, als bei einer Aufführung, bei der man – in Anführungszeichen – "nur" auf der Bühne steht?

"Man öffnet seine Seele"

Marks: Eindeutig ja, zumal man im Grunde als Chorsänger immer die relative Gewissheit hat, dass wenn gerade einmal die Stimme nicht an dieser ein oder anderen Stelle gut laufen sollte, dass es immer noch die Kollegen rechts und links gibt, die diesen Klang auf jeden Fall kompensieren, sodass der Chorklang an sich nie wirklich von der individuellen Stimme beeinflusst wird, sondern als ein Klang wahrgenommen wird. Bei Human Requiem ist es so, dass wir von Anfang an inmitten der Zuschauer und Zuhörer stehen, weit entfernt manchmal von den anderen Kollegen und somit im Grunde solistisch uns präsentieren, direkt neben dem Zuhörer, der einen quasi von 10 Zentimeter Entfernung aus anhören, ansehen kann. Man öffnet da also quasi, und gerade beim Human Requiem, seine Seele, so kann ich es nicht anders beschreiben. Das ist natürlich dann ein ganz anderes, eine ganz andere Atmosphäre und eine ganz andere Emotion für den Sänger, als wenn er nur dort drüben quasi auf der Bühne stünde.
Welty: Wie hat ihr Publikum in Athen darauf reagiert auf diese Nähe?
Marks: Zuerst befremdlich überrascht, denn das ist bei uns eine schöne Tradition, dass wir uns unentdeckt, wenn möglich, unter die Zuhörer mischen und dann unvermittelt anfangen, nach dem Eingang des Klaviers, mit dem Singen. Also dann drehen sich die Zuhörer plötzlich zu einem um, sind völlig überrascht, dass neben ihnen die Musik spielt und nicht irgendwie an einem anderen zentralen Ort. Dann kommen ganz verschiedene Emotionen hervor. Die einen sind überrascht, die anderen, die unter Umständen auch den Text verstehen, in dem es gerade im ersten Teil um das Trösten geht, um die Trauer, aber eben auch um die Hoffnung, beginnen zu weinen. Ich hatte gestern eine Dame unvermittelt in meinen Arm genommen, weil sie plötzlich in Tränen ausbrach – das ist uns schon öfter passiert –, und wir kennen diese Situation, und dann singen wir eben einfach erst mal nur für diese eine Person und versuchen, durch unseren Gesang und durch unsere Nähe diese Person zu trösten. Das ist für uns immer ein ganz spannender Moment, wie reagiert das Publikum darauf, und auch gestern war es nicht anders, ja.
Welty: Neben den Konzerten gab es eine Generalprobe, die noch mal besonders war: Da waren nämlich 200 Flüchtlinge aus Piräus eingeladen. Inwieweit hat sich diese Probe von den Konzerten unterschieden?

Generalprobe mit 200 Flüchtlingen

Marks: Insofern, als dass wir erst einmal gar nicht mit so einer Masse gerechnet hatten. Wir haben gerade auch in Berlin Kontakt zu zwei Flüchtlingsheimen, um die wir uns ideell und auch manchmal finanziell ein bisschen kümmern. Wir sammeln manchmal auch untereinander für diese Flüchtlingsheime, besorgen auch mal Auftritts- oder Karten für Konzerte, zu denen uns dann einige 20 bis 25 Flüchtlinge begleiten und besuchen können, und so hatten wir eigentlich auch gedacht, dass, als man uns sagte bei der Generalprobe werden ein paar Flüchtlinge zugegen sein, aber eben auch Athener, Menschen, dass wir einfach eine ganz normale Generalprobe absolvieren, so wie wir es in Berlin meistens tun, und so waren wir … Also im Grunde sind wir in diesen Saal hineingekommen, und plötzlich waren da 200 Flüchtlinge aus Piräus, und damit hatten wir zunächst einfach gar nicht gerechnet, aber dann kam unglaublich viel Herzlichkeit und auch Aufgeschlossenheit dieser Flüchtlinge hinzu. Gerade von den Kindern, bei denen es so war, dass einige unserer weiblichen Kolleginnen vorwiegend plötzlich ein Kind an der Hand hatten, das jeden Schritt dieser Sängerin mitging, das ganz genau auf den Gesang geachtet hat, das sich mit der Sängerin hinsetzte. Wir haben in diesem Stück auch eine Szene, in der wir schaukeln, plötzlich saßen die Kinder auf unseren Schößen, und das passiert bei den normalen Vorstellungen eigentlich gar nicht, aber das war so eine Herzlichkeit, eine Ungezwungenheit, auch dass die Flüchtlinge nach jedem Stück, nach jedem Teilstück unseres Requiems geklatscht haben. Das ist normalerweise, in Europa kenne ich das nicht so. Da ist es meistens recht ruhig bis ganz zum Schluss, und hier war die Stimmung einfach so, dass es anscheinend gefallen hat und so ergriffen war, dass das Publikum sehr emotional reagiert hat und immer wieder geklatscht hat und so weiter. Ich erwähne das Wort emotional anscheinend sehr inflationär gerade, aber das war wirklich ein ganz toller Besuch hier in Athen, sowohl bei der Generalprobe, als auch bei den Vorstellungen.
Welty: Noch mal die Frage, die ich am Anfang gestellt habe: Mit welchem Gefühl nach diesen intensiven Ereignissen und Erlebnissen, mit welchem Gefühl fahren Sie jetzt nach Hause?

Beitrag zum gegenseitigem Verständnis

Marks: Mit dem Gefühl, dass dieses Human Requiem und im Grunde, dass die Musik universell ist. Wir waren vor ein paar Wochen auch in Hong Kong in Taipeh, wussten dort auch nicht, wie reagiert das Publikum, und sind dort auch auf eine dermaßen emotionale oder aufgeschlossene Atmosphäre gestoßen. Wir haben immer Menschen erreichen können mit unserer Musik, wir wurden angelächelt, wir wurden angenommen, wo immer wir auch waren, und das war hier in Athen auch gar nicht anders. Das bestärkt uns darin, dass das, was wir machen, wirklich völkerübergreifend wirkt und unter Umständen auch, so hoffen wir jedenfalls, zur Entspannung beitragen zum gegenseitigen Verständnis. Musik hat da doch eine recht gewaltige Wirkung, das merken wir jedes Mal, und gerade jetzt, wenn wir aus Athen zurückfliegen, wurden wir darin wieder bestätigt.
Welty: Der Rundfunkchor Berlin zu Gast in Athen – das war keine Konzertreise wie jede andere und dann doch wieder, und darüber habe ich hier im "Studio 9" mit Tenor Holger Marks gesprochen. Ganz herzlichen Dank dafür, und einen guten und sicheren Heimflug wünsche ich!
Marks: Ja, besten Dank! Viele Grüße!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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