Runder Tisch Heimerziehung: Heimkinder waren keine Zwangsarbeiter

Antje Vollmer im Gespräch mit Stefan Karkowsky · 15.04.2010
Die Moderatorin des Runden Tisches Heimerziehung im Deutschen Bundestag, Antje Vollmer, hat Forderungen von ehemaligen Heimkindern zurückgewiesen, sie als Zwangsarbeiter anzuerkennen. Der Begriff Zwangsarbeit im historischen Sinn - die Vernichtung von Menschenexistenzen durch Arbeit zum Zweck optimaler Gewinnausschöpfung - treffe hier nicht zu.
Stefan Karkowsky: Seit 14 Uhr tagt im Bundestag zum siebten Mal der Runde Tisch "Heimerziehung", das Gespräch mit seiner Vorsitzenden, Antje Vollmer, haben wir deshalb zuvor aufgezeichnet. Frau Vollmer, guten Tag!

Antje Vollmer: Guten Tag! Ich bezeichne mich übrigens als Moderatorin, nicht als Vorsitzende.

Karkowsky: Als Moderatorin des Runden Tisches, okay, gut.

Vollmer: Das ist meine Aufgabe.

Karkowsky: Die Demonstration heute war organisiert von der Freien Initiative Ehemaliger Heimkinder, einem Verband gleich mehrerer Opferorganisationen, und die Giordano Bruno Stiftung ist da auch mit drin. Die Initiative wirft Ihnen nun persönlich vor, den Heimkindern die Anerkennung als Zwangsarbeiter zu verweigern – so stand es ja auch ausdrücklich drin im Zwischenbericht des Runden Tisches, den ich auch gelesen habe. Da haben Sie sich dagegen gewehrt, dieses Wort zu verwenden. Aber es ist doch so, dass die Heimkinder unter Androhung von Strafen zur Arbeit gezwungen wurden in den Heimen, oder?

Vollmer: Also wir haben in dem Zwischenbericht geschrieben, dass viele Heimkinder dieses als Zwangsarbeit bezeichnen, und wir haben auch konkrete Berichte aufgenommen. Wir haben trotzdem, und zwar nicht ich, sondern einstimmig der gesamte Runde Tisch, das heißt in einer Diskussion von mehr als 48 Stunden, Wort für Wort und Seite für Seite von diesem Bericht abgestimmt. Und darin haben wir gesagt, dass wir uns den Begriff Zwangsarbeit in dem historisch geprägten Sinn, wie er in der Nazizeit war, nämlich Vernichtung von Menschenexistenzen durch Arbeit, und das zum Zweck optimaler Gewinnausschöpfung, wie das bei den großen Konzernen, die Hitler unterstützt haben, der Fall war, dass das auf diesen Fall nicht zutrifft.

Karkowsky: Aber es ist doch nicht die einzige Definition von Zwangsarbeit. Das Grundgesetz kennt das Wort Zwangsarbeit. In Artikel 12 Absatz 3, da steht drin, Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig. Sie hätten ja diesen Begriff, wenn er den Opfern so wichtig ist, benutzen können im Sinne des Grundgesetzes. Warum haben Sie das nicht getan?

Vollmer: Weil es nicht im Sinne des Grundgesetzes ist. Wir haben eine ganze Arbeitsgruppe, die Rechtsfragen prüft, und insbesondere auch diese Passage aus dem Grundgesetz, und die sind in zwei Voten zu dem Schluss gekommen, dass für diese Art von Erziehung unter Zwang der Begriff nicht zulässig ist. Das heißt, da muss man sich schon auch an juristischen Sachverstand halten. Wobei wir ja gar nicht bestreiten, dass das subjektiv so war und gerade wir nach Wegen suchen, wie man für die, die ganz besonders – und das war nicht in allen Heimen so, das ist sehr unterschiedlich gewesen – aber die schwere Arbeit in der Landwirtschaft oder teilweise auch angelehnt an Industrien gemacht haben, wie man denen helfen kann. Und wir sind da eher am Überlegen, dass man das Rentenrecht, was das zurzeit auch nicht zulässt, aber dass man das in der Hinsicht öffnen kann, dass wenigstens die nicht gezahlten Beiträge zur Rentenversicherung für diese Gruppe dann ermöglicht wird. Das gehört genau zu den Dingen, die wir prüfen, weil wir das Anliegen ernst nehmen.

Karkowsky: Ich muss das kurz erklären: Die Opfer bestehen auf diesem Begriff Zwangsarbeit, weil im juristischen Sinne Zwangsarbeit nicht verjährt. Das heißt, sie könnten heute immer noch Entschädigung dafür kriegen.

Vollmer: Das stimmt auch nicht, auch die Zwangsarbeiter-Stiftung, sie wollen die Parallele zu der Zwangsarbeiter-Stiftung haben, für NS-Opfer und auch ...

Karkowsky: Was natürlich nicht geht.

Vollmer: Und auch die Zwangsarbeiter-Stiftung hat eine sehr generalisierte Lösung in Form eines Stiftungsmodells gemacht, wo sie überhaupt nicht überprüfen, wie lange hat jemand gearbeitet, wie viel Gewinn ist aus ihm gepresst worden, sondern wo sie sehr generell sagen, wir leisten eine symbolische Entschädigung. Das heißt, über solche Art von symbolischen Entschädigungen reden wir auch, aber dieser dringende Wunsch, dieses als Zwangsarbeit zu bezeichnen, ist, glaube ich, ausdrücklich von den Anwälten gekommen.

Karkowsky: Ah ja. Zu Gast im "Radiofeuilleton" hören Sie Antje Vollmer, hier als Moderatorin des Runden Tisches Heimerziehung, und weil der seit 14 Uhr tagt, haben wir dieses Gespräch zuvor aufgezeichnet. Frau Vollmer, Sie sind persönlich angegriffen worden von Vertretern der Heimkinder, weil man Sie als zu kirchennah empfunden hat.

Vollmer: Des Verbandes, ja.

Karkowsky: Des Verbandes. Sie sind evangelische Theologin, Sie waren Pastorin in Berlin, und Sie haben ja vor nicht mal drei Jahren Ihr ganz persönliches Glaubensbekenntnis abgelegt in Ihrem Buch "Gott im Kommen? Gegen die Unruhestifter im Namen Gottes". Die Opfer aber, die wurden ja zumeist im Namen Gottes bestraft und gedemütigt, und das wohl nicht nur in den kirchlichen Heimen, wenn ich Ihren Bericht richtig gelesen habe. Das war Ihnen doch klar, dass die Opfer Ihnen da misstrauen könnten, oder?

Vollmer: Also, ich habe eine Anfrage vom gesamten Deutschen Bundestag mit allen Fraktionen einstimmig bekommen, ob ich diese Arbeit machen will. Und auf dieses einstimmige Votum habe ich diese Aufgabe angenommen, die übrigens ehrenamtlich ist und ich Ihnen versichern kann, eine der kompliziertesten Dinge, wenn überhaupt die Tatsache, dass ich mal Theologin war, übrigens nie als Pastorin gearbeitet habe, sondern ...

Karkowsky: In Wedding heißt es in Ihrer ...

Vollmer: Ich war Vikarin da. Also ich habe nie eine Pfarrstelle gehabt und habe das dann auch an den Nagel gehängt. Weil wenn es überhaupt einen Nutzen hat, dann, ich muss ja am Ende eine Lösung finden, und in diese Lösung, wenn zwei Drittel der Heime in kirchlicher Hand waren, müssen sie die Kirchen als Träger und als welche, die das akzeptieren und dann auch entsprechende Konsequenzen tragen, mit einbeziehen.

Karkowsky: Aber muss die Moderatorin ...

Vollmer: Und ich denke ...

Karkowsky: ... eine sein, die so ...

Vollmer: Ich denke, dass vermutlich bei denen, die mich befragt haben, eher meine kirchenkritische Haltung ausschlaggebend war als meine positive Kirchenhaltung. Aber Sie müssen mal überlegen, was meine Aufgabe ist. Meine Aufgabe ist nicht, Forderung von irgendeiner Seite oder Darstellung von irgendeiner Seite eins zu eins umzusetzen, sondern meine Aufgabe ist, in einer Sache, in der alles verjährt ist, in der es kein Gesetz mehr gibt, was Sie anwenden können – das hat nämlich der Petitionsausschuss schon geprüft, drei Jahre lang und nichts gefunden, in einem extrem komplizierten Gremium, wo Sie Bürokraten von der Regierung haben, von Länderregierungen, die sagen, es geht uns nichts an, von Kirchen, Institutionen, Jugendverbänden und Opfervertretern –, darin eine Lösung zu finden, die nicht null ist, sondern wo wenigstens ein großer Teil der Betroffenen sagt, die Gesellschaft hat uns am Ende doch noch gehört und uns etwas angeboten, was ein Zeichen ist, dass wir wieder akzeptierter Teil dieser Gesellschaft sein sollen.

Karkowsky: Nun kommt nicht nur Kritik aus den Reihen der Heimkinder, ich will nicht sagen von allen, aber es gibt schon einige Kritik, jetzt gehen die heute auch noch auf die Straße. Wie fühlen Sie sich denn dabei, fühlen Sie sich da ungerecht behandelt, Frau Vollmer?

Vollmer: Ich finde, dass ich gar nicht betroffen bin. Ich freue mich, dass die auf die Straße gehen, das ist ein Teil positiver Erfolg unserer Arbeit. Nämlich bisher hat ein Heimkind gar nicht gesagt, dass es ein Heimkind ist. Das heißt, sie trauen sich auf die Straße. Zum Zweiten glaube ich, dass das ein Votum ist zu sagen: Denkt nicht nur wie in der aktuellen Debatte an die in den Eliteschulen und was denen passiert ist, denkt bitte an uns, wir waren viel mehr und es ist uns viel schlimmer gegangen und wir hatten keinen einzigen Fürsprecher. Und als einen solchen Fürsprecher verstehe ich auch mich. Und als Drittes gibt es immer ein drängendes, forderndes Wunsch und Begehren, dass der Runde Tisch viel mehr auf die Interessen der Betroffenen noch eingeht. Da finden aber auch manchmal Übertragungen statt. Manchmal habe ich den Eindruck, ich stehe auch stellvertretend für die Eltern, die die Kinder ins Heim geschickt haben, für die Erzieher, die ihnen Unrecht getan haben, für den Staat, der sich nicht um sie gekümmert hat – das alles konzentriert sich dann auch auf so eine Funktion, wie ich habe, aber ich sehe das überhaupt nicht persönlich.

Karkowsky: Und dass auf dieser Demonstration daran gezweifelt wird, dass dieser Runde Tisch am Ende überhaupt ein Ergebnis bringt, mit dem die Heimkinder leben können, das stört Sie nicht?

Vollmer: Das ist ein Druck, den wir von Anfang an hatten, und ich versuche, nach bestem Wissen und Gewissen das Optimum rauszuholen, es ist aber nicht der einzige Druck. Es gab auch den Druck von Institutionen, die gesagt haben, wir wollen das Thema überhaupt nicht mehr aufmachen, seid ihr dann verrückt.

Karkowsky: Von der Kirche?

Vollmer: Von der Kirche, aber auch von der Regierung, auch von Länderseite. Es gab auch Anfragen, was geht euch das überhaupt an, das ist Ländersache. Das heißt, Druck ist – wenn Sie in so einer Arbeit drin sind – ungeheuer groß von allen Seiten. Und dass Sie das mit Lob beenden können, das ist in einem so komplizierten Fall wahrscheinlich nicht drin, aber man muss mit sich selbst im Reinen sein.

Karkowsky: Seit 14 Uhr tagt erneut der Runde Tisch Heimerziehung im Deutschen Bundestag. Das Gespräch mit seiner Moderatorin Antje Vollmer haben wir deshalb zuvor aufgezeichnet. Frau Vollmer, danke für das Gespräch!