Ruhrpott

Fußball als letzter Anker

Ein Fußball liegt im Stadion des MSV Duisburg.
Ins eigene Scheitern verliebt? Der MSV Duisburg spielt derzeit in der 3. Liga. © Rene Tillmann dpa/lnw
Von Thomas Jaedicke · 17.11.2014
In seinem Buch "Wenn wir vom Fußball träumen - Eine Heimreise" beschreibt Christoph Biermann Fußball als letzten gemeinsamen Nenner der Menschen im Ruhrgebiet - und liefert nebenbei eine kluge Analyse der Region.
Was ist Heimat? Wie definiert man Identität? Im Ruhrgebiet, wo es besonders viele Fußballvereine in enger Nachbarschaft gibt, kann Fußball helfen, diese wichtigen Lebensfragen besser beantworten zu können. Für viele Menschen im Pott ist Fußball ein letzter Anker in immer unsicherer werdenden Zeiten, der letzte gemeinsame Nenner einer brüchiger werdenden Lebenserzählung. So hat Christoph Biermann das in vielen Gesprächen, die er während seiner "Heimreise" geführt hat, erfahren.
Aber: "Wenn wir vom Fußball träumen" ist weit mehr als ein Fußballbuch. Es ist die kluge Analyse einer Region, die lange Zeit fast ausschließlich von Kohle und Stahl lebte, nun aber - nach dem endgültigen Niedergang dieser Industrie - immer noch mitten im Strukturwandel steckt und nach ihrer neuen Rolle sucht.
Ausgangspunkt für Biermanns Reise war ein erschütterndes Gefühl der Heimatlosigkeit, das sich nach dem Tod seines Vaters in ihm ausgebreitet hatte. Nach dessen Beerdigung fährt er noch einmal ins alte Stadion von Westfalia Herne, weil er dort als Kind mit seinem Vater viele Spiele gesehen hat und "Fußball das war, was uns am meisten verband". Die Arena des ehemaligen Zweitligisten – mittlerweile in die fünfte Liga abgerutscht – ist zwar, wie Biermann schreibt, ziemlich verfallen, "aber für mich war dieser Ort dennoch nicht trostlos. Im Gegenteil."
Woher kommt die enorme Kraft, die der Fußball entwickelt?
Woher aber kommt diese enorme Kraft, die der Fußball selbst an Orten, die schon viel bessere Zeiten gesehen haben, entwickelt? Das ist die große Frage, der Biermann auf den Grund geht. Und er liefert so viele interessante und schlüssige Antworten, die er während seiner Reise von unterschiedlichsten Gesprächspartnern erhalten hat, dass es wirklich eine große Freude ist, dieses Buch zu lesen. Z.B. Biermanns, von Experten gestützte, Thesen zur Identifikation: Das Ende der Industrie, das Verschwinden der lebensgefährlichen Knochenarbeit unter Tage und an den Hochöfen hat es den Menschen erst ermöglicht, sich immer stärker mit ihrer Region, dem Revier, zu identifizieren. Kurz gesagt: Nur weil der Dreck nicht mehr da ist, kann man ihn jetzt romantisieren.
Die hartnäckige Verklärung der längst untergegangenen Epoche der Montanindustrie hat aber auch oft dazu geführt, dass sich der darin entstandene, für viele Ruhrgebietsmannschaften typische Malocherfußball nicht mehr weiterentwickelt. Die Schwäche der Region diene vielen Vereinen, wie z.B. Duisburg oder Bochum, als Ausrede dafür, dass es eben nicht besser gehe. Fehlender Optimismus führt zu Stagnation. Selbst Schalke ist nach Biermanns Überzeugung hoffnungslos ins eigene Scheitern verliebt.
Leuchtende Ausnahme: Borussia Dortmund! Jürgen Klopp versöhnt nach Biermanns Einschätzung Tradition und Moderne zu einer Art Malocherfußball 3.0., indem er das Konzept des Arbeitens auf dem Platz erweitert; das Raue und Einfache mit Emotion und Leidenschaft verbindet und so ein Fußballmodell entwickelt hat, das sogar im traditionsverliebten Pott weitgehend akzeptiert wird.

Christoph Biermann: "Wenn wir vom Fußball träumen - Eine Heimreise"
Kiepenheuer&Witsch
253 Seiten, 18, 99 Euro