Ruhrfestspiele Recklinghausen: "Mein bitteres Land"

Komödiantisches Ringen um eine Urne

Das Festspielhaus der Ruhrfestspiele Recklinghausen
Das Festspielhaus der Ruhrfestspiele Recklinghausen © dpa / picture alliance / Caroline Seidel
Von Alexander Kohlmann · 16.05.2016
In der deutsch-italienischen Migrationsstory "Mein bitteres Land" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen ringen zwei Töchter um die väterliche Urne. Die Inszenierung von Matteo Marsan, Dania Hohmann und Ulrich Waller zeichnet die Zerrissenheit einer ganzen Gastarbeitergeneration nach.
Eine Leichenhalle in Wolfsburg. Urnenfächer bis unter die Decke. Auf einem Tisch steht eine weiße Urne. Zwei Frauen treffen hier zusammen, um sie abzuholen. In der Uraufführung "Amare terra mia. Mein bitteres Land" stellte sich schnell heraus, dass die beiden Schwestern sind.
Der Vater, der nur noch als Asche anwesend ist, hat jahrelang ein Doppelleben geführt. Seine erste Familie gründete der italienische Gastarbeiter der ersten Generation in Deutschland. Als er Jahre später nach Italien zurückging, verließ er seine deutsche Familie und gründete eine zweite, italienische. Später kam er erneut zum Arbeiten nach Deutschland und hielt fortan zu beiden Töchtern Kontakt, ohne ihnen je voneinander zu erzählen.

Zerissenheit einer ganzen Gastarbeitergeneration

In der Zerissenheit dieses Lebenslaufs spiegelt sich die Zerrissenheit einer ganzen Gastarbeitergeneration und ihrer Kinder. Beim komödiantischen Ringen der Töchter um die väterliche Urne geht es immer auch darum, welche Heimat die Oberhand behält. Und um ein Wiederaufleben der Vergangenheit.
In der Inszenierung von Matteo Marsan, Dania Hohmann und Ulrich Waller verwandeln sich die Töchter immer wieder in die Männer, die einst in den 50er-Jahren nach Deutschland kamen. Mit Schlapphut und Mantel erobern sie das neue, kalte Land, werben um Frauen, die bis dahin nur die korrekten deutschen Männer kannten - und fühlen sich trotzdem nie akzeptiert.
Kein Wunder: Flimmernde Schwarzweiß-Projektionen auf der Wand aus Urnenfächern zeigen Reportagen von damals, die erschreckend an die Gegenwart erinnern. Vom ungezügelten, südländischen Menschen ist da die Rede, der seine Affekte noch nicht richtig kontrollieren könne und deshalb schon bald die Kriminalitäts-Statistik erhöhen werde. Von Menschen, die angeblich zum ersten Mal in ihrem Leben Geld hätten - und zuviel Zeit, um deutsche Frauen zu verführen.
Schon vor der Ankunft haben, nur zehn Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei, deutsche Ärzte in Italien die Neuankömmling untersucht. Man will ja schließlich nicht jeden haben, auch wenn das Wort "Selektion" tabu ist. Kopfformen werden auf den Schwarzweiß-Bildern vermessen - und demütigende Fragen nach eventueller Bettnässerei gestellt.

Regie-Team setzt auf tragische Komik

Es sind diese Reportage-Aufnahmen, die die Aktualität der internationalen Koproduktion des St. Pauli Theater Hamburg, des Teatro Alfieri Castelnuovo Berardenga und des Theatres de la Ville Luxembourg ausmachen.
Auf der Bühne setzt das Regie-Team leider vollends auf tragische Komik und die beiden hinreißenden Schauspielerinnen Adriana Altaras und Daniela Morozzi, die auch ihre eigene Biografie in diesem Abend verarbeiten. Wie sie da über der Urne des Vaters miteinander ringen und gestikulieren ist sehr unterhaltsam, aber der Wunsch nach einem offensiven Einbruch der Gegenwart bleibt.
So scheint dieser Abend wie der Auftakt für eine große Auseinandersetzung mit deutschen Bildern von Fremdheit, der urplötzlich nach nur 75 Minuten schon wieder vorbei ist. Andererseits macht die Tatsache, dass diese Produktionen mit dem St. Pauli-Theater von einer privaten Bühne gestemmt wird, auch Hoffnung darauf, das jenseits der um sich greifenden Unterhaltungs- und Show-Formate das Theater auch ohne Millionen-Subventionen ein Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung sein kann.
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