Rücksichtnahme statt Regel

Von Michael Hollenbach · 01.02.2007
Bohmte wird durch die Landstraßen 81 und 85 und die Kreisstraße 401 durchzogen. In Bohmte wohnen 13.500 Menschen, die täglich von 12.600 Kraftfahrzeugen überrollt werden. Nur wörtlich genommen! Die Gemeinde Bohmte will nun ganz praktisch testen, wie mit weniger Schildern, Ampeln und Vorschriften der Verkehr "menschlicher" gemacht werden kann. Augenzwinkern, Vorbeiwinken und andere Aufmerksamkeiten werden von der EU mit Geld prämiert.
Dichter Straßenverkehr auf der Hauptstraße im friesischen Drachten, doch Hans Monderman betritt – ohne nach links und rechts zu gucken – die Fahrbahn.

"Gleich wird angehalten. Ich habe nicht mal den Leuten, in die Augen geguckt, wir verstehen einander."

Der Verkehrsplaner Hans Mondermann ist sich seines Lebens sicher – zumindest in Drachten.

"Auf einer normalen Kreuzung, das hätte vielleicht mein Tod sein können."

Vor drei Jahren begannen die Planer, die niederländische 45.000-Einwohner-Stadt zu verändern. An den Hauptkreuzungen verschwanden die Ampeln, die Bürgersteige, die weißen Markierungen und Pfeile. Alles wirkt etwas unübersichtlich, chaotisch:

"In diesem Platz funktioniert der Kreisverkehr, aber wenn man hier fährt den Wagen, dann spürt man: eigentlich man fühlt sich als Teil des Platzes, Teil der sozialen Welt um sich, und man benimmt sich auch anständig, weil man die Idee hat, das ist öffentlicher Raum, das ist nicht nur Verkehrsraum. Das können Sie beobachten: wenn sich hier jemand bewegt, dann hält der Verkehr gleich an."

Einst eine funktionale Straßenkreuzung, gebaut für den Autoverkehr, jetzt ein Platz mit neuen Fontänen, Spaziergängern, Radfahrern und eben auch Autofahrern.

"Der Platz hat eine Identität und wenn Sie auf den Platz fahren, dann spüren Sie die Identität, man sieht Menschen laufen und fühlt sich als Teil dieser Welt von Menschen und benimmt sich wieder anständig. So einfach funktioniert das."

Den 61-jährigen Verkehrsingenieur plagt schon seit Jahrzehnten die Frage, wie man die Unfallzahlen reduzieren und die Lebensqualität an den Hauptstraßen steigern kann. Dabei hat er die Langsamkeit entdeckt. Statt Stop and Go von Ampel zu Ampel zockeln die Autos gleichmäßig mit 20 bis 30 Stundenkilometer über Granitpflaster durch den Stadtkern.

"Was sich hier 30 Jahre lang entwickelt hat, ist, dass langsam schneller geht. Wenn man ein bisschen langsamer durch die Stadt fährt, braucht man all diese Ampeln nicht. Wenn es den meisten Verkehr gibt, kann man innerhalb von zehn Minuten die Stadt durchqueren. Die Höhe der Geschwindigkeit hat innerhalb unserer Städte überhaupt keinen Nutzen."

Messungen haben ergeben, dass nun, nachdem 16 von 18 Ampel abgebaut wurden, der Verkehr flüssiger und schneller durch die Stadt rollt. Der Lärmpegel und der Energieverbrauch sind auch gesunken. Dabei sieht sich Hans Monderman aber keineswegs als niederländischer Don Quichotte, der partout alle Ampeln und Verkehrsschilder aus der Welt schaffen will.

"Schilder, ich habe nichts mit Schildern zu tun. Schilder sind Instrumente, die man braucht, um Leuten klar zu machen, was man eigentlich nicht mehr lesen kann. Eigentlich meine ich: wenn man einen guten Entwurf baut als Ingenieur, braucht man keine Schilder, weil die Straße alle Dinge erzählt, die man wissen muss. Schilder sind immer ein Zeichen, das irgendwas nicht stimmt. Schilder sind ein Zeichen dafür, dass nicht ganz klar ist, was da los ist. Was mehr braucht man als zu wissen, dass man in einer Stadt ist, und dass man sich anständig benehmen soll."

Der Erfolg gibt dem Verkehrsweisen Recht: Die Auswertung der Abrüstungsmaßnahmen hat ergeben, dass die Unfallzahlen leicht zurückgegangen sind; vor allem schwere Unfälle hat es in Drachten seit drei Jahren nicht mehr gegeben. Dem Verkehrsplaner geht es vor allem um eine andere Philosophie: der Autofahrer soll nicht auf Ampeln, Radarfallen und Verkehrsschilder fixiert sein, sondern auf die anderen Verkehrsteilnehmer achten. Deshalb versucht er sogar, Spielplätze und Altenheime nah und deutlich sichtbar an die Straße zu setzen.

"Was klar sein muss, ist, dass es hier ein Altenheim gibt mit alten Leuten, die die Straße überqueren möchten. (...) ich denke, ich hätte den Ausgang mehr auf die Straße hingezogen, dass man spürt, jeden Moment könnte ein alter Mensch in meiner Vorderscheibe sich vortun. Aber hier habe ich überhaupt keine Deutung, was mal passieren könnte."

Mit Spielplätzen direkt an der Straße hätte Adalbert Allhoff-Cramer zwar seine Probleme; aber grundsätzlich ist der Vorsitzende der Verkehrspsychologen beim Bundesverband Deutscher Psychologen von dem Projekt begeistert.

"Es ist ein bisschen paradox, aber ich denke, als langfristige Perspektive kann das sehr sinnvoll sein, denn wir kommen auf dem Weg nicht weiter, dass wir noch mehr regulieren, noch mehr Schilder und Verkehrsampeln aufstellen, das führt nicht zu mehr Sicherheit, also muss man über neue Konzepte nachdenken und dies ist ein sehr kreatives Konzept."

Der Verkehrspsychologe betont zwar, dass die Zahl der Unfalltoten in Deutschland seit 1970 von 20.000 auf etwas mehr als 5000 im vergangenen Jahr zurückgegangen ist – und das liege vor allem an den technischen Verbesserungen. Aber es sei mittlerweile eine Grenze erreicht, denn:

"Die Arbeiten zu Fahrerassistenzsystemen zeigen auch, dass der Versuch, mehr Sicherheit durch technische Ausstattung und Absicherung zu erreichen, auch nicht unbedingt zum Ziel führt. Auch hier kann es der richtige Weg sein, nicht zu viel zu tun."

Die Holländer waren so erfolgreich, dass ihr Modell nun exportiert wird. Als EU-Projekt "Shared Space", geteilter Raum – in sieben europäische Städte. Mit dabei ist auch das niedersächsische Bohmte bei Osnabrück. Ein langgestreckter Ort, geprägt durch die Hauptsraße. Rund 12.000 Autos rollen täglich über die Bremer Straße durch Bohmte, darunter 1500 Lastwagen. Verdeckte Messungen haben gezeigt, dass sich hier kaum jemand an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält: die Fahrer düsen mit 65 Stundenkilometern durch den Ort - im Durchschnitt. Lange Rückstaus vor der zentralen Ampelkreuzung sorgen für Gestank und Lärm. Das soll jetzt anders werden, sagt Bohmtes Bürgermeister Klaus Goedejohann. Während er die Hauptstraße hinauffährt, erläutert er die Umsetzung des Shared Space- Konzeptes:

"Wir beginnen ab hier. Diese Einmündung und dieser Vorbereich werden als erstes mit umgestaltet, (...) dieser ganze Hauptstraßenbereich inklusive der Gaststätte, und dann diese Ampelkreuzung, die wir auch total umgeschaltet, das ist schon ein Fläche, und dadurch bekommen auch die Menschen in Bohmte das erste Mal die Möglichkeit, einen Ortskern wahrzunehmen."

Denn der lang gestreckte Straßenort hatte nie einen richtigen Ortskern.

"Hier wird diese angedeutete Kreisverkehrslösung kommen und dann gilt natürlich die Rechts- vor Links-Regelung, weil ich keine Schilder aufstellen möchte."

In Bohmte sollen noch in diesem Jahr die Bürgersteige verschwinden, der Asphalt kommt weg, alles wird einheitlich gepflastert.
Als der Bürgermeister in einer Versammlung die Pläne für einen möglichst verkehrsschilderfreien Ort vorstellte, kam die irritierte, aber ernst gemeinte Nachfrage eines Bürgers, welches Schild denn darauf hinweisen werde, dass es keine Schilder mehr gäbe.
Klaus Goedejohann will vor allem auch, dass die Ampel an der zentralen Kreuzung verschwindet. Denn die sei – vor allem für die Fußgänger – richtig gefährlich:

"Das ist jetzt die Situation: Linksabbieger. Ich habe Grün und die Fußgänger auch. Da blinkt zwar eine gelbe Leuchte, aber wenn hier ein Lkw reingerauscht kommt mit 50 und hat noch eben Gelb, der denkt sich, da komme ich auch noch durch und sieht den kreuzenden Fußgänger, das kann ganz schnell schief gehen."

Unterstützt wird das Projekt auch von der örtlichen Werbegemeinschaft, den Geschäftsleuten aus Bohmte. Die sind – wie Friedrich Wilhelm Asshorn – extra nach Holland gefahren, um sich das Modell dort anzuschauen.

"Gefahr bringt Sicherheit. (..) Das klingt paradox, aber wenn man da richtig drüber nachdenkt: ich meine, dass wir durch diesen Schritt einen Weg gegangen sind, um den Verkehr anliegerfreundlich zu gestalten."

Der Gastwirt Friedrich Wilhelm Asshorn steht mit seiner weißen Kochjacke und der Mütze am Straßenrand und sinniert über die Verkehrsphilosophie. Nur wo alles geregelt ist, kann der Autofahrer ohne Skrupel Gas geben. Unübersichtliche Straßen fördern dagegen das Verantwortungsbewusstsein. Das bedeutet: Gefahr bringt Sicherheit, - und vermeintliche Sicherheit kann tödlich enden, hat Asshorn gelernt:

"Als die Helmpflicht für Kradfahrer kam, ist die Anzahl der Todesopfer gestiegen. Warum? Weil alle den Helm aufgesetzt haben und gesagt: jetzt kann ich mit 100 in die Kurve fahren, mir passiert ja nichts, ich habe ja ein Helm auf. Und das ist gerade die Krux daran, es passiert eben doch was."

Und der Gastronom referiert noch ein Beispiel: In Schweden seien nach der Umstellung von Links- auf Rechts-Verkehr die Unfallzahlen im ersten halben Jahr runtergegangen, weil sich die Menschen umstellen mussten und vorsichtig fuhren. Nach anfänglicher Skepsis hält Friedrich Wilhelm Asshorn mittlerweile ein wenig Anarchie für durchaus vorteilhaft – zumindest im Straßenverkehr:

"Es geht immer nach dem Prinzip: In Deutschland ist alles geregelt, wir haben alles geregelt, (...) und darauf verlassen wir uns auch (...) und hier ist es so, das der Fußgänger dann über die Straße gehen kann, und der Lkw-Fahrer mal einen Moment anhält und sagt: Okay, ich lasse dich vorbei. (...) Das ist schwer zu verstehen."

Wenn jemand besonders betroffen ist von der Verkehrssituation im Ort, dann ist das Hubertus Brörmann. Denn der hat sein Textilkaufhaus direkt an der Hauptkreuzung von Bohmte. Geht die Schiebetür seines Geschäftes auf, hat man das Gefühl, hinter der Kundin würde auch gleich ein Lkw mit in den Laden rollen.

Auch wenn Brörmann, der über seinem Geschäft wohnt, unter dem gegenwärtigen Lärm leidet, war er zunächst skeptisch wegen des Shared space-Projektes:
"Meine Bedenken sind erst die gewesen, dass ein Verkehr ohne Verkehrsschilder nicht möglich ist."

Doch auch er ließ sich von den Holländern überzeugen:

"Ich denke, es wird sich auf jeden Fall die Lärmbelastung verändern, weil wir jetzt eine Ampelanlage haben, und der Verkehr doch sehr laut ist durch anfahrende Fahrzeuge und durch bremsende Fahrzeuge, (,,..) aber der fließende Verkehr, der wird, denke ich, ruhiger sein."

Durch Verkehrszählungen ist aber auch klar geworden, dass die Bohmter die Verantwortung für das hohe Verkehrsaufkommen nicht allein dem Durchgangsverkehr anlasten können. Mehr als die Hälfte der Autofahrer kommt aus Bohmte selbst.

"Nur bei dem Lkw-Verkehr, den wir hier im Ort haben, mit dem Fahrrad über die Straße zu fahren, ist lebensgefährlich, ich fahre selbst auf dem Bürgersteig, auch wenn es nicht erlaubt ist, aber es ist einfach zu riskant, man bangt um sein Leben."

Hubertus Brörmann hofft, dass er künftig öfter auf sein Auto verzichten und sich aufs Rad schwingen kann. Doch noch gibt es häufig Stress zwischen Radfahrern und Fußgängern:

"Es kommt häufig zu Konflikten zwischen Fußgängern und Radfahrern auf dem Fußweg, weil der Fußgänger auf sein Recht pocht, demnächst haben wir kein Fußweg, kein Radweg, kein Autoweg, dann muss die Fahrbahn geteilt werden, shared space, geteilter Raum, und jeder hat die gleichen Rechte, und der Stärkere muss einfach Rücksicht nehmen."

Doch noch sind die Bohmter Bürgerinnen und Bürger durchaus unterschiedlicher Meinung über ihre schilderlose Zukunft:

"Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen. Was soll ich dazu sagen: Alle gleich vorfahrtsberechtigt, ich weiß es nicht, es herrscht ja jetzt schon das absolute Chaos."

"So wie sich das anhörte, war das nett. Die Autos sind zwar noch da, aber es müssen sich alle sogar auf Kinder einstellen, ich habe etwas vom Spielplatz auf der Straße gehört, das funktioniert in Holland, schauen wir mal, dass man aufeinander Rücksicht nehmen muss, dass man sich wieder in die Augen schauen muss – (...) ich bin dafür."

"Ich kann es mir noch nicht wirklich vorstellen, dass es funktioniert, (...) weil ich nicht denke, dass die Leute so rücksichtsvoll sind, und wirklich immer aufpassen, und ich stelle es mir als Autofahrer auch sehr schwierig vor. Aber wenn es funktioniert, wäre ja schön."

Das hofft auch der Verkehrspsychologe Adalbert Allhoff-Cramer. Er fordert aber die Bohmter Planer auf, vorsichtig und sensibel das neue Konzept umzusetzen:
"Denn es kann auch sehr viel Unmut erzeugen bei den Betroffenen (...) vor allem muss man sehr gut aufpassen, dass das Konzept und das Modell nicht in Verruf gerät, das kann schnell passieren, ein einziger schwerer Unfall würde genügen, um die ganze Sache zu gefährden: also Behutsamkeit ist angesagt, langsame Entwicklung."

Was gilt der Prophet im eigenen Land: Während man in Bohmte noch auf Skeptiker stößt, eilt der Ruf dem Shared Space Projekt jedenfalls schon voraus: Besucher aus den USA, aus Argentinien und Australien haben sich vor Ort über die Entdeckung der Langsamkeit informiert und wollen das schilderlose und ampelfreie Modell in Übersee einführen.