Rückbesinnung auf die Grundwerte

Moderation: Gabi Wuttke · 03.05.2006
Der deutsch-französischer Publizist und Politologe Alfred Grosser hat sich in der Debatte über eine deutsche Leitkultur für eine Rückbesinnung auf die "schwarz-rot-goldenen Grundwerte" ausgesprochen. Gemeint sei damit vor allem die gemeinsame Kultur des Westens, sagte Grosser im Deutschlandradio Kultur.
Gabi Wuttke: Der am Sonntag gestorbene Paul Spiegel hat vor sechs Jahren schon das Gerede um die Leitkultur beklagt und Rahmenbedingungen für ein gemeinsames Leben in Deutschland gefordert. Ist die Debatte um eine Leitkultur in Deutschland auch für Sie möglicherweise immer noch Gerede?

Grosser: Nein, es ist keineswegs Gerede und man soll von Toten nichts Böses sagen. Aber die Leitkultur von der Seite der jüdischen Organisation ist nicht immer sehr gut behandelt worden. Es ist oft Gerede, aber zum Beispiel der Bundestagspräsident wird jetzt ein Buch veröffentlichen, wo auch ein Beitrag von mir drinsteht, über das Prinzip der Leitkultur und ich sage darin zuerst mal Positives. Es gibt zwei deutsche Leitkulturen, die schwarz-weiß-rote und die schwarz-rot-goldene. Die schwarz-weiß-rote, das war im Namen der, dass von Leitkultur am Anfang gesprochen wurde, vor allen Dingen von Roland Koch, aber die schwarz-rot-goldene, das ist die gemeinsame Kultur des Westens, die Amerikas inbegriffen.

Wuttke: Die CDU bastelt gerade an einem Parteiprogramm, das mit "Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit" überschrieben sein soll. Stehen Freiheit und Gerechtigkeit für Sie im richtigen Zusammenhang, wenn es um die Leitkultur-Debatte in Deutschland geht.

Grosser: Ja ich habe jetzt gerade hier einen Artikel veröffentlicht mit den drei "Liberté, Egalité, Fraternité", "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" aber das Wort Freiheit ist sehr wichtig in der deutschen Leitkultur. Es ist sehr zweideutig. Denn man verwechselt ständig die Wirtschaftsfreiheit mit der politischen Freiheit, mit den Grundfreiheiten und ich muss immer in Deutschland daran erinnern, dass am 23. März 1933, alle Parteien, die für die Wirtschaftsfreiheit waren, Hitler die Freiheit gegeben haben, sämtliche Freiheiten und Rechte abzuschaffen, nur die Sozialdemokraten haben damals dagegen gestimmt.

Wuttke: Ein Einwurf zur deutschen Leitkultur kam gerade aus Hessen, vom Christdemokraten Roland Koch, der fordert die Unternehmen auf, sich auf ihre Rechte und Pflichten zu besinnen und spricht in diesem Zusammenhang von einer ökonomischen Leitkultur.

Grosser: Ja, also wenn man ernst nimmt, wenn Herr Ackermann sich rühmt, so viel Geld zu verdienen, dann ist das eine schlechte Leitkultur. Wenn der Abstand immer mehr wächst zwischen oben und unten. Jetzt ist der Unterschied zwischen oben und unten in den großen Unternehmen, eins zu tausend. Das war vor ein paar Jahren eins zu zwei- oder dreihundert, höchstens und eins zu zwanzig in der Mittelstufe. Wenn zum Beispiel die IG Bau einen Abschluss macht, indem sie eine Stunde mehr arbeiten soll, die Arbeiter im Bau mit nicht mehr Lohn und in der Chefetage geschieht gar nichts, wird nicht das geringste Opfer gebracht, ist das eine Verhöhnung der Grundleitkultur.

Wuttke: Das heißt, Sie betonen ja auch immer wieder, es gäbe keine Wahrheit. Es gäbe nur die Suche nach der Wahrheit. Wo sollte Deutschland suchen, um eine sinnvolle Linie in dieser Debatte um die Leitkultur zu bringen?

Grosser: Ja zu sehen zum Beispiel, wenn Frau von der Leyen sagt und auch so tut, als sei die Leitkultur und die Grundwerte christlichen Ursprungs, muss daran erinnert werden, dass die Demokratie sehr spät gekommen ist. Der erste Papst, der von Demokratie gesprochen hat, der Pius XII. 1944 und als die evangelische Kirche sich neu gegründet hat 1945, sagte sie, sie gestand die Schuld ein, 400 Jahre geglaubt zu haben, das Luthertum bestehe darin, die Untertanen aufzufordern, der Obrigkeit zu gehorchen. Also man soll es ein bisschen ruhig machen mit den rein christlichen Werten, auf die die Erziehung sich glaube ich gründen sollte, wenn ich Frau von der Leyen höre.

Wuttke: Was Frau von der Leyen jetzt präsentiert hat, ihr Bündnis für Erziehung, es stützt sich ja ganz klar und ausgewiesener Maßen auf die christlichen Kirchen. Sie kritisieren es auch, wie andere Kritiker hier in Deutschland, die sagen, das sei bereits das Ende von Freiheit und Gerechtigkeit?

Grosser: Das nicht, aber ich komme aus Frankreich, wo die Kirchen mitmachen. Vor zwei Tagen hat unser Premierminister die christlichen Kirchen empfangen, gerade einen Kardinal, der Erzbischof, der Präsident der Bischofskonferenz ist, der Präsident der evangelischen Kirchen, nur, um die Frage der Asylsuchung. Das ist die echte soziale Aufgabe der Kirche.

Wuttke: Vielleicht können Sie uns noch mal im groben ihre Leitlinien vorlegen, die sie für Deutschland im Jahr 2006 sehen wollen. Wo haben wir uns verheddert und wo sollte die Sinnsuche nach einer tatsächlich konstruktiven Debatte im Zusammenhang mit der Leitkultur hinführen?

Grosser: Ja man soll sich daran erinnern, dass man zum Beispiel 1832 in Hambach die polnischen Flüchtlinge empfangen hat und wie das, in meinen Augen der beste deutsche Journalist Heribert Prantl, einmal geschrieben hat: Damals suchte man Schutz für die Flüchtlinge, heute sucht man Schutz vor den Flüchtlingen. Und der neue Artikel 16 der Verfassung zum Asylrecht ist eine, ich möchte sagen Verneinung der Grundwerte. Und die Grundwerte, das sind die traditionellen, schwarz-rot-goldenen Grundwerte und vor allen Dingen die Tatsache, was die Bundesrepublik oft vergisst, sie ist das einzige Land in Europa, die das Glück gehabt hat, es war im Unglück ein Glück, nicht auf die Nation aufgebaut zu werden, sondern auf eine politische Ethik, die der Grundwerte, nämlich die doppelte Ablehnung, des Nationalsozialismus in der Vergangenheit und des Stalinismus in der Nachbarschaft. Das ist die eigentliche Grundlage der Bundesrepublik, daran sollte sie sich halten. Und ich glaube, sie hat es gut getan, sie hat die Selbstanklage in der Vergangenheit manchmal etwas übertrieben.

Wuttke: Inwiefern?

Grosser: Ja also, das Monument in Berlin finde ich furchtbar. Ein Teil meiner Familie ist in Auschwitz per Gas umgekommen, andere sind erschossen worden, da macht man Grabsteine und sie sollte auch klar einsehen, dass es mindestens zwei deutsche Frauen gibt, die behaupten etwas zu sein, was sie nicht sind. Das ist Lea Rosh und Erika Steinbach.

Wuttke: Inwiefern sind sie etwas, was sie nicht sind?

Grosser: Erika Steinbach ist nie eine Vertriebene gewesen und sie spricht im Namen der Vertriebenen und Lea Rosh ist keine Jüdin.

Wuttke: Lea Rosh hat nie gesagt, dass sie Jüdin ist. Sie spricht für die jüdische Sache.

Grosser: Aber sie hätte nicht ihren Vornamen ändern sollen und Erika Steinbach, wenn sie sagt, es hat auch polnische Vertriebene gegeben, es haben auch Polen gelitten. Das ist eine Verhöhnung des Leidens Polens und sogar ein deutschlandfreundlicher, ehemaliger KZler wie Bartoszewski war so aufgeregt über Erika Steinbach. Was ich nicht verstehen kann, dass sich die Kanzlerin nicht wirklich auf Distanz stellt von Erika Steinbach.

Wuttke: Sie hat immerhin ein anderes Zentrum auf den Weg gebracht, das nicht nur unter der Federführung des Verbandes der Vertriebenen steht. Ist das nicht ein richtiger Weg?

Grosser: Der ist nicht von ihr gemacht. Das ist jetzt in Bonn gemacht und ich hab noch nicht die Ausstellung Vertreibung gesehen, aber die ist ohne Frau Steinbach entstanden.

Wuttke: In diesem Monat Herr Grosser, soll in Rheinland-Pfalz eine Schule nach Ihnen benannt werden, was hatte eigentlich die CDU in der südlichen Weinstraße so lange dagegen?

Grosser: Na es war nur die Kreis-CDU, die hat gestört, dass ich Atheist bin und da gab es eine Revolte in Leserbriefen, es gab auch eine Revolte der CDU, manche sind ausgetreten und letzten Endes hat die Kreis-CDU ihren Mitgliedern bei der letzten Abstimmung im Kreisparlament die freie Wahl gelassen und nur einer hat dagegen gestimmt. Und das Ganze ist sehr demokratisch geschehen. Die drei Gymnasien, Realschule, Gesamtschule, die Schüler haben gewählt, die Eltern haben gewählt, die Lehrer haben gewählt. Und ich freue mich sehr darauf, so freut sich auch mein Freund Wolfgang Schäuble und so freut sich auch der in Bergzabern geborenen Kurt Beck.

Wuttke: Hat es Sie nicht gestört, wir reden ja immer noch über das Thema Leitkultur?

Grosser: Das waren einige wenige, die gesagt haben, sie hätten nicht gewusst, wer ich bin. Das ist eben sehr traurig für mich und für sie, aber warum soll man nicht auch manchmal etwas gegen Dummheit erkämpfen?