Roman

Scherben eines zerfallenden Indiens

Frauen protestieren in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi im Juni 2014 gegen sexuelle Gewalt.
Frauen protestieren mit Plakaten in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi im Juni 2014 gegen sexuelle Gewalt. © picture alliance / dpa / Foto: Money Sharma
Von Claudia Kramatschek · 02.12.2014
Rish ist reich, gelangweilt und gefühlskalt. Nach dem Studium in den USA kehrt er nach Bombay zurück, geht auf Partys und erlebt die Vergewaltigung einer Freundin. "Scar City" von Shreyas Rajagopal ist ein Porträt einer indischen Jugend, die scheinbar den Lebenssinn verloren hat.
Bombay, so heißt es an einer Stelle im legendären Blockbuster "Slumdog Millionaire", sei die einzige Stadt der Welt, in der man einen Slum, einen Hund und einen Millionär findet, keine Hundert Meter voneinander entfernt. Tatsächlich aber leben in ganz Indien Reiche und Arme nicht nur Tür an Tür. Ohne die Armen, die für einen Hungerlohn für die Reichen schuften, wäre deren Wohlstand nicht denkbar. Zu den ganz Reichen, die eine elitäre Minderheit in Indien bilden, gehört auch Rish, die Hauptfigur in Shreyas Rajagopals Debütroman "Scar City".
Wunsch nach Erlösung
Mit ihm tauchen wir ein in eine Welt, die nur wenige hierzulande kennen: Es ist die Welt der indischen jeunesse dorée. Dieser Rish – ein verwöhntes Einzelkind – kehrt zu Anfang des Romans zurück in seine Heimatstadt Bombay. Er hat ein paar Semester in Amerika hinter sich. Mit in seinem Gepäck: ein dunkles Geheimnis, das offenbar auf seinen Schultern lastet und der Wunsch nach Erlösung, die sich am Ende nicht erfüllen wird.
Denn "Scar City" ist das düstere Porträt einer Jugend, die scheinbar alles hat und doch den Sinn des Lebens verloren hat. Lange Strecken des Buches folgen wir Rish – aus dessen Sicht der Roman erzählt ist – von einer Party zur nächsten, wo die Drogen und die Mädchen von einer Hand zur anderen wandern. Markennamen pflastern den Weg dieses Lebens an der Oberfläche, das auf Hochtouren läuft und doch von einem schrecklichen Leerlauf vergiftet ist. Einen Ausweg scheint es aus diesem Kreislauf nicht zu geben: Früh schon lernt auch Rish, dass es oberstes Gesetz ist, das Gesicht zu wahren, eine Maske aufzusetzen, unter der die wahren Gefühle sorgfältig verborgen bleiben.
Zwischen Egoismus und Autismus
Seine Figuren kommen sich daher nie wirklich näher; ihr Smalltalk nervt, ist aber Teil des psychotischen Gefüges, das der Autor in "Scar City" einfangen will: Sie spüren ihre Verlorenheit, können ihr aber keinen Ausdruck geben. Nur selten heben sie den Blick über den eigenen Tellerrand und sehen dann die Scherben eines zerfallenden Indiens, in dem Bauern-Selbstmorde, Kannibalismus und Gruppenvergewaltigungen an der Tagesordnung sind. Tränen können sie dennoch schon lange keine mehr vergießen. Rish etwa fühlt sich schuldig am Selbstmord von Sahil, dem Bruder seines besten Freundes Rohan; den Kontakt zu Rohan aber hat er abgebrochen, aus Angst vor den Fragen, auf die er keine Antworten hat. Und als eine gute Freundin von ihm auf einer Party vergewaltigt wird, wird er vier Tage später die Stadt verlassen – unfähig, sich ihrem und seinem Schmerz zu stellen. Ist das purer Egoismus oder fataler emotionaler Autismus?
Der Roman, der in seiner thematischen Ausrichtung auf die lify-style-Sorgen und -Exzesse einer post-kolonialistischen Jugend an Jeet Thayils Roman "Narcopolis" erinnert, macht einem die Antwort nicht leicht. Manchmal erzürnen einen die Luxusprobleme dieser "lost generation"; literarisch überzeugt er nicht immer. Dennoch lohnt es sich, ihn zu lesen: als Produkt seiner Zeit und als Symptom einer Krankheit, an der das aufstrebende Indien ebenso leidet wie an der noch immer allumfassenden Armut.

Shreyas Rajagopal: Scar City
Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs und Simone Jakob
Ullstein Verlag, Berlin 2014
350 Seiten, 18,00 Euro

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